Sehnsucht nach Owitambe
diesem Nachmittag hatte der Feind für mich zum ersten Mal ein Gesicht bekommen. Ein unschuldiges, hilfloses Mädchen, das durch meine Schuld gestorben war. Mit einem Mal erkannte ich, dass ich so nicht mehr weiterleben wollte. Ich befahl meinen Leuten, umzukehren und das Dorf zu verschonen. Sollten andere diesen Frevel begehen.«
»Und dann hast du deinen Dienst quittiert und hast dein Land verlassen?«
Rajiv lachte bitter.
»O nein! So einfach haben sie mich nicht gehen lassen. Ich habe den Ruf unserer Familie beschmutzt. Ich war ein Verräter, der es nicht mehr wert war, zu leben. Obwohl der Maharadscha sehr gnädig war und mich aus seinen Diensten entließ, hatte ich nun meine ganze Familie gegen mich. Sogar meine Frau und meine Kinder wandten sich voller Verachtung von mir ab. Mein jüngerer Bruder bekam von meinem Vater den Auftrag, mich zu töten …«
Rajiv verzog in gramvoller Erinnerung sein Gesicht. »Nur einem guten Freund habe ich es zu verdanken, dass ich noch lebe. Er war Arzt und behandelte gerade meine Mutter in einem Nebenraum, als er zufällig etwas von dem Komplott mitbekam. Er warnte mich. Bei Nacht und Nebel floh ich aus unserem Palast und verließ wie ein Dieb mein Land. Ich werde niemals mehr dorthin zurückkehren können.«
Fritz legte seine Hand auf Rajivs Arm und lächelte ihm aufmunternd zu.
»Du bist ein tapferer Mann.«
Rajiv betrachtete ihn mit einem dankbaren Lächeln.
»Und du bist ein guter Freund.«
So waren sie einen um den anderen Tag durch das flache Sandfeld geritten, das nur von niederwüchsigem Gebüsch und vereinzelten Bäumen bewachsen war. Weit und breit war kein lebender Mensch zu sehen. Entmutigt und enttäuscht beschlossen sie, noch dem Lauf des Epukiro Rivier zu folgen, um dann ihre Suche abzubrechen.
Der dunkle Fleck am Horizont fiel ihnen zunächst gar nicht auf. Erst als er sich bewegte, wurden die Männer aufmerksam. Fritz zog sein Fernglas hervor und richtete es aus. »Es sind Flüchtlinge«, meinte er erleichtert und gab das Glas an Rajiv weiter, dessen Miene sich nun ebenfalls aufhellte.
»Hoffen wir, dass wir noch rechtzeitig kommen!«
Sie gaben ihren Pferden die Sporen und ließen sie in einem flotten Trab laufen. Nach etwa einer halben Stunde hatten sie die Menschengruppe erreicht. Es waren nicht viele, vielleicht sieben oder acht. Darunter zwei Frauen, aber keine Kinder. Die Freude der beiden Männer über ihre Entdeckung erstarb in dem Augenblick, als sie die Flüchtlinge erblickten. Die meisten von ihnen waren fast nackt. Die Reste ihrer Kleider hingen wie Fetzen an ihnen herab. Ihre Gestalten waren bis auf das Gerippe abgemagert. Sie konnten sich kaum auf den Beinen halten und scharten sich wie verängstigtes Vieh eng zusammen. Ihr Anblick war erbärmlich. Nur einer der Männer wagte überhaupt sie anzusehen. Fritz erschrak. Etwas im Gesicht dieses Mannes war ihm vertraut.
»Mateus Waravi?«, fragte er schließlich ungläubig. Der ältere Mann sah ihn aus glanzlosen Augen an. Er tat zumindest so, als würde er Fritz nicht erkennen. Dessen Blick schweifte über den Rest der Gruppe. Die anderen Männer waren ihm fremd, aber eine der Frauen drehte sich nun ihm zu und sah ihn hoffnungslos an.
»Herr Fritz«, hauchte sie mit schwacher, tonloser Stimme.
»Nancy!« Fritz war zutiefst erschüttert.
»Was haben sie nur mit dir gemacht?«
Die ehemalige Haushälterin von Owitambe war kaum wiederzuerkennen. Ihre kräftige, runde Gestalt war eingefallen und kraftlos. Bluse und Rock waren zerfetzt, und ihre Kopfbedeckung hatte sie verloren. Ihr krauses schwarzes Haar war stumpf und grau geworden, der Blick trüb und ohne Lebensmut. Fritz sprang von seinem Pferd und löste eilig die Wasserflaschen von seinem Sattelgurt. Er reichte eine der Flaschen Nancy, während Rajiv ebenfalls Wasser an die anderen verteilte. Die Flüchtlinge nahmen es dankbar an. Jeder von ihnen zwang sich dazu, nur ein paar Schlucke zu trinken, weil sie wussten, dass ihre ausgezehrten Körper nur wenig Flüssigkeit auf einmal aufnehmen konnten.
»Jetzt wird alles gut!«, meinte Fritz und versuchte ein Lächeln. Doch die ehemalige Köchin schien ihn gar nicht wahrzunehmen, sonder starrte apathisch über das weite Sandfeld. Er erklärte Mateus Waravi und seinen Leuten, dass er vorhabe, sie zu der Missionsstation in Epukiro zu bringen. Dort befand sich das nächste Auffanglager. Traugott Kiesewetter würde sich sicherlich gut um die Leute kümmern. Die Herero nahmen die
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