Sehnsucht nach Owitambe
wahnsinnig. Mit letzter Kraft versuchte sie auf die Knie zu kommen. Als das nicht gelang, robbte sie weiter. Mühsam schnappte sie noch einmal nach Luft. Neuer Rauch drang in ihre Lungen. Ihr wurde schwindlig, während ihr Geist sich immer mehr vernebelte. Fritz, ihre Mutter und ihr Vater tauchten vor ihrem inneren Auge auf und schließlich das entsetzte Gesicht ihrer Sternenschwester, bevor endlose Dunkelheit sie umfing.
Gefangenschaft
»Dieser Mann ist ein Kollaborateur und Mörder!«
Nachtmahrs Augen funkelten unter den dichten Brauen. Fritz stand mit gebundenen Armen vor dem Schreibtisch des befehlsführenden Offiziers in Okahandja. Nach Tagen in einer muffigen, dunklen Zelle hoffte er nun endlich doch noch auf Gerechtigkeit. Wo Rajiv und die Herero waren, wusste er nicht. Er hoffte nur, dass Nancy noch lebte. Offensichtlich fokussierte Nachtmahr seinen ganzen Hass auf ihn.
»Dieser Mann hat sich geweigert, mir eine Gruppe Herero auszuliefern. Dabei kam es zu einem Streit, bei dem er meinen Sohn hinterrücks ermordete.«
»Was soll der Unsinn! Sie wissen, dass das nicht stimmt!«, widersprach Fritz. Er fühlte sich erschöpft. Der lange Marsch und die Haft hatten ihm zugesetzt. Tagelang hatte er an seiner Zellentür gestanden und vergeblich um eine Vernehmung gebeten. Man hatte ihn wie einen Schwerverbrecher behandelt. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben, obwohl Nachtmahrs dreiste Anschuldigung ihn mächtig erregte. Bislang hatte er Nachtmahrs überzogene Reaktion als Folge der schrecklichen Ereignisse betrachtet. Nachtmahr war als impulsiver Mensch bekannt, aber Fritz war sich sicher gewesen, dass er sich über kurz oder lang wieder beruhigen würde. Das war allerdings nicht der Fall. Nachtmahrs dreiste Anschuldigungen konnten ihn hier an offizieller Stelle Kopf und Kragen kosten.
Fritz versuchte sein Gegenüber genau einzuschätzen. Der Offizier, ein etwa vierzigjähriger zierlicher Major, wirkte überarbeitet,
wenn nicht gar überfordert, und schien wenig Lust zu haben, ein Militärtribunal abzuhalten. Vielleicht ließ sich die Gelegenheit ja mit ein paar vernünftigen Erklärungen lösen. Der Major blätterte lustlos in dem Bericht, den Nachtmahr verfasst hatte.
»Die Anschuldigungen, die Leutnant Nachtmahr hier vorbringt, sind schwerwiegend«, sagte er schließlich. Er vermied es, Fritz anzusehen. »Hier stehen Aussagen, nach denen sie nicht nur ein Kollaborateur, sondern auch noch ein feiger Mörder sind. Wenn das den Tatsachen entspricht, werden Sie dafür gehängt. Ist Ihnen das klar?«
»Ich bin weder ein Kollaborateur noch ein Mörder«, widersprach Fritz empört. »Fragen Sie die anderen Soldaten, die dabei waren. Sie werden bestätigen, dass ich Leutnant von Nachtmahrs Sohn nicht getötet habe.«
Der Major winkte ungeduldig ab. »Die Zeugenaussagen der anderen Soldaten liegen mir vor. Keiner von ihnen widerspricht Leutnant von Nachtmahrs Aussage.«
»Aber dann lügen sie!« Fritz Gesicht wurde aschfahl.
»Deutsche Soldaten lügen nicht!«, polterte Nachtmahr los. »Aber burische Einwanderer umso mehr. Dieser Mann wollte uns weismachen, dass er das Hereropack in ein Auffanglager der Rheinischen Mission bringen wollte. Tatsache ist jedoch, dass er eindeutig auf dem Weg zu seiner Farm war. Die Leute, die auf Owitambe leben, sind bekannt für ihre Negerfreundlichkeit. Außerdem hat mein Sohn die ehemalige Köchin der Farm unter den Gefangenen entdeckt. Das wurde ihm zum Verhängnis.«
»Ich gebe zu, dass unsere ehemalige Köchin unter den Herero war. Aber das ist noch lange kein Beweis dafür, dass ich sie nicht in ein Auffanglager der Mission bringen wollte«, verteidigte sich Fritz aufgebracht. »Und diese Anschuldigung gibt ihm noch lange nicht das Recht zu behaupten, dass ich seinen Sohn getötet hätte.«
»Du hast ihn erstochen, weil er den fliehenden Neger erschossen hat«, brüllte Nachtmahr. In seinen Augen blitzte ein irres Licht. Fritz schüttelte ungehalten den Kopf.
»Sie wissen ja gar nicht, was Sie reden.«
Der Major schlug mit der Hand auf den Tisch.
»Genug!«
Doch Fritz ließ sich nicht einschüchtern. Er blickte ihn eindringlich an. »Sie dürfen ihm nicht glauben.«
»Dann geben Sie uns doch mal Ihre Version der Ereignisse«, forderte der Major ihn auf. Seine Stimme klang ungeduldig, wenn auch nicht unfreundlich. Fritz räusperte sich. Es musste ihm gelingen, den Major zu überzeugen. In einfachen, klaren Worten versuchte er seine Sicht der Dinge darzustellen. Er
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