Sehnsucht
als glücklich bezeichnen. Und doch weià ich, seitdem ich dich wiedergetroffen habe,dass etwas fehlt. Die wichtige Frage ist, was fehlt. Etwas, was dasein müsste, ist nicht da. In mir und meinem Leben. Und deshalb ist ein Teil von mir ständig hungrig, ständig durstig. Weder meine Frau noch meine Kinder können diesen Mangel ausfüllen. Es gibt auf der ganzen Welt nur einen Menschen, der das kann. Du. Erst jetzt, da dieser Durst gestillt ist, begreife ich, wie leer ich war. Und wie sehr ich, so viele Jahre lang, gehungert und gedürstet habe. 16
2. Â
Das Haus der Wonnen am Ende der Welt â
Sehnsucht als Lebenskonzept
Ich habe dir deine Wege gesucht,
Ich bin dein Glück und ich bin dein Fluch,
Hab dir fast den Verstand geraubt,
Du hast trotzdem an mich geglaubt,
Ich bin die Sehnsucht in dir.
Die Toten Hosen
Ich lebe meine Sehnsucht, singe täglich, spiele Saxophon und bin sehr glücklich. Vielen Dank nochmals, dass Sie mir dabei geholfen haben, mich selbst zu finden. Mit freundlichem GruÃ, Elena!
Als ich diese E-Mail erhielt, musste ich unwillkürlich an die traurige Elena denken, die vor eineinhalb Jahren mit ihrem Mann in die Paartherapie gekommen war. Sie hatte alt und bedrückt gewirkt und war während der Therapie immer jünger und freier geworden. Es war nicht so sehr der äuÃere Verjüngungsprozess gewesen. Sie hatte sich zwar die Haare kurz geschnitten, trug andere Kleidung, war bunter und lebendiger angezogen als noch zu Anfang, aber all dies war eher Ausdruck einer inneren Metamorphose gewesen. Zugleich hatte sie sich damit auch immer mehr von ihrem Mann abgesetzt, der in seinem grau verharrte, vor allem seinem inneren Grau. Dreitagebärte sollen ja Männer angeblich männlicher machen, aber manchmal sehen sie damit einfach nur älter und ungepflegt aus. Ein Dreitagebart mit Depressionen passt eher zu Alkohol, Ehekrise und Endzeitstimmung.
Elena und das Saxophon
Elena hatte ihre Liebe zur Musik entdeckt. Das Saxophon, sie nannte es liebevoll »meine Kanne«, und der Gesang hatten es ihr angetan. John Coltraine und Bobby McFerrin hieÃen ihre groÃen Vorbilder. Die Konzerte von Bobby McFerrin in Deutschland hat sie drei Mal miterlebt, John Coltraine gab es nur noch auf DVD, aber beide wollte sich ihr Mann nicht ansehen, weil er das unbestimmte Gefühl hatte, dass von diesen Künstlern eine Gefahr für seine Ehe ausging. Die Entdeckung der Musik, der handgemachten Musik in einer echten Band, hatte aus ihr eine andere Frau gemacht. Sie konnte einfach nicht mehr so weiterleben und alles in ihr bisheriges Leben integrieren, wie ihr Mann das immer wieder forderte: Sing doch soviel du willst, spiel deine Kanne, ich komme sogar zu deinen Auftritten, aber warum musst du denn gleich dein ganzes Leben umkrempeln und dich auch noch von mir trennen? Das verstehe ich nicht! Elena konnte ihm das nicht erklären und sie verstand es zunächst auch selbst nicht.
Es tat ihr weh, ihn so leiden zu sehen, sie wollte ihn nicht verletzen. Aber sie hatte ihre Sehnsucht entdeckt und war durch nichts mehr aufzuhalten. Sie nahm alle Schuld auf sich, als sie ihm sagte: Ja, ich habe mich verändert, du bist der alte geblieben, dich trifft keine Schuld. Aber du gehörst zu meinem alten Leben und ich kann dich in das neue nicht mitnehmen. Wir können Freunde bleiben, aber mehr nicht. Sie war erstaunlich klar in ihren ÃuÃerungen, auch wenn sie sich vielleicht noch ein wenig selbst von ihrer Entscheidung überzeugen musste, um nicht doch einzubrechen und nachzugeben, denn er tat ihr unendlich leid. Die Musik stand dabei symbolisch für die neue Elena. Wussten Sie eigentlich, hatte sie mich gefragt, dass Buster Keatons Mutter Myra Keaton auch schon Saxophon gespielt hat und eine tolle Sängerin mit einem wunderbaren Timbre gewesen war? Nein, das hatte ich nicht gewusst. So erfahre ich von den Klienten mehr über das Leben und die Klienten erfahren in der Therapie mehr über sichselbst. Mehr über sich selbst zu wissen sei bedeutsamer, als mehr über die Welt zu wissen, hatte ich ihr gesagt, und sie hatte mir lächelnd und wissend zugestimmt.
Wir hatten in Einzelsitzungen über die unaufhaltsame Verwirklichung ihrer Sehnsucht gesprochen. Ich wollte in der Therapie versuchen, die gefühlsbetonte und diffuse Sehnsucht in eine konkrete Utopie zu verwandeln, denn die Sehnsucht musste den Realitätstest bestehen. Unsere
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