Sehnsucht
mit der Wüste eher Entbehrungen und Durst verbinden, ist sie für Beduinen oder Nomaden ein Ort der tiefen Sehnsucht. So besagt ein traditionelles arabisches Sprichwort: Wer die Wüste nicht kennt und ihren Atem nie gespürt hat, wird ein Leben lang erfüllt sein von Sehnsucht. Für die Nomaden ist die Wüste ihre Heimat, ein Meer ohne Wasser , ein unbegrenzter Raum an Freiheit und Stille.
Das Sehnen kann sich als Sucht an alles binden, an Materielles oder auch an bloÃe Ideen. Und so, wie man in den Suchttheorien die stoffgebundenen von den stoffungebundenen Süchten unterscheidet, könnte man von einer materiellen und einer ideellen Sehnsucht sprechen. Ebenso wie die Süchtigen leiden die Sehn-Süchtigen unter diesem Mangel, haben körperliche Schmerzen und sind in ihrem Denken durch die Sehnsucht beherrscht. Sehnsucht macht hilflos und machtlos, abhängig und bedürftig. Sie zeigt uns unsere Grenzen auf und beendet damit den Machbarkeitswahn; sie lässt uns die Selbstbeherrschung verlieren, hemmungslos weinen, freudig jauchzen und schmerzhaft stöhnen. Sehnsucht hat anscheinend auf ganz ursprüngliche Weise etwas mit dem Leben und dem Mangel zu tun, mit Lebenshunger und Liebesdurst.
Lebensbilanzen
Wir werden hungrig nach Liebe geboren und bleiben es mehr oder weniger ein ganzes Leben lang, erleben besonders in der Jugend eine Zeit schier grenzenlosen Hungers nach Leben und Liebe, erscheinen danach immer wieder für kurze Zeit wohlig gesättigt, bis wir den Hunger und den Mangel als Lebensbegleiter anzunehmen lernen, und werden am Ende unseres Lebens noch einmal von einem melancholischen Lebenshunger geplagt, der aus all den verpassten Chancen unseres Lebens besteht. Die bloÃe Erinnerung kann jederzeit neue Sehnsucht hervorrufen, und beneidenswert sind vielleicht diejenigen, die sich nicht erinnern können. Wäre es nur das nicht gegessene 5-Gänge-Menü oder der nicht getrunkene Champagner, dann könnten wir damit zufrieden weiterleben. Aber es mehr, viel mehr. Es meldet sich das nicht gelebte Leben mit seinen bohrenden Fragen: Hätte ich mich rückblickend anders verhalten sollen? Was habe ich alles verpasst? Was hätte ich haben oder sein können, wenn ich an den entscheidenden Schnittstellen meines Lebens nicht Ja oder Nein gesagt oder mich auch einfach nur anders entschieden hätte? Wo habe ich mich mit magerer Kost begnügt und zugleich auf ein opulentes Mahl verzichtet? Welcher Genuss ist mir entgangen? Welche Liebe habe ich nicht gelebt? Welches Glas habe ich nicht getrunken? Welche sexuelle Leidenschaft nicht ausgelebt? Welche persönliche Beziehung habe ich schlicht verpasst? Welchen Teil der Welt habe ich nie gesehen? Mit welchen Menschen habe ich nie gesprochen? Wo habe ich mich ängstlich zurückgehalten, anstatt die Gunst der Stunde zu nutzen?
Bilanzen am Ende des Lebens sind manchmal grausam und verstörend, aber sie sind ja nur eine letzte Extremform, denn auf dem Weg dorthin gilt es die vielen kleinen Bilanzierungen des Alltags zu ertragen, die sich schon vor den Entscheidungen einstellen und die mit ihren Fragen noch in die Zukunft gerichtet sind. Soll ich jetzt nach Hause gehen oder ist die Nacht nochlang? Soll ich in diesem Jahr die groÃe Reise machen oder sie noch weiter verschieben? Soll ich alles genieÃen, was das Leben mir bietet, oder zugunsten noch besserer Möglichkeiten lieber verzichten? Soll ich mich mit dem derzeitigen Partner begnügen, oder findet sich noch ein besserer? (Und wenn ja, wann und wo und wie und woran werde ich es merken?) Angesichts der beinahe grenzenlosen Möglichkeiten sind solche Fragen eine beständige Herausforderung. Manchmal hilft uns das Schicksal oder eine Krise, solche Entscheidungen zu treffen. Krankheiten, Unfälle oder der Tod eines nahen Menschen sind solche Momente, die zur Entscheidung drängen. Wer aber das Glück der Freiheit hat, der muss die Qual der Entscheidung erdulden und die Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns übernehmen. Mit jeder Entscheidung wird ein aktueller Hunger gestillt, bis er sich aufs Neue einstellt.
Sehnsucht nach der Sehnsucht
Sehnsucht ist der ungestillte Hunger und Durst der Seele. Sie ist die Vorfreude auf ein erhofftes Ereignis und manchmal befriedigender und glücklicher als das Ereignis selbst. Deshalb haben manche Menschen auch eine Sehnsucht nach der Sehnsucht, weil sie den erwartungs- und
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