Sehnsucht
Frau sofort in eine neue Wohnungseinrichtung investierte. Erst ein Jahr später sollte ihr erstes Kind, der Sohn Emil, geboren werden, aber schon damals hatte der Börsenmakler mit dem heimlichen Malen angefangen und besuchte abends einen Zeichen- und Malunterricht in der Akademie Colarossi. Ãberall hinterlieà er seine Skizzen, aus dem Makler wurde mehr und mehr ein Maler, der über mehr als zehn Jahre eine Art Doppelleben führte, aber sich dessen anscheinend gar nicht bewusst war. Als er viele Jahre später einmal von Freunden gefragt wurde, wie er dieses Doppelleben über so viele Jahre aufrechterhalten konnte, soll er geantwortet haben:
Ich habe es nicht geschafft ⦠Aber was sollte ich tun. Ich war ein Bourgeois mit Prinzipien. Wie hätte ich alles, was auf meinen Schultern lastete, Frau, Kinder, Sicherheit, Reputation, zum Teufel schicken können? Zum Glück hatte ich die Energie eines Vulkans. Vier Stunden Schlaf genügten mir. 18
Diese vulkanische Energie war Ausdruck seiner leidenschaftlichen Sehnsucht: der Malerei, Bildhauerei und Kunst. Aus dem Hobby der skizzenhaften Malerei war längst eine Leidenschaft geworden, die er täglich ausleben musste und ohne die er nicht mehr leben konnte. Bis zu seinem 30. Lebensjahr hatte er nicht einmal Strichmännchen gemalt und Künstler waren für ihn Bohemiens und Schwule gewesen. Ãberhaupt hatte er in seinem bisherigen Leben wenig mit Kunst und Kultur zu tun gehabt, er war bei der Marine gewesen und jahrelang zur See gefahren, dabei hatte er die Bordelle der groÃen Hafenstädte kennengelernt. Bis zu seinem 35. Lebensjahr führte er ein biederes und bourgoises Familienleben in Paris, bevor aus ihm der groÃe französische Maler Paul Gauguin werden sollte.
Gab es ein auslösendes Ereignis, das zu diesem künstlerischen Comingout führte? Gauguin selbst hat darauf eine klare Antwort gegeben: Es war das Bild Olympia von Edouard Manet, das für ihn eine Wende in seinem Leben und eine Hinwendung zu seiner leidenschaftlichen Sehnsucht der Malerei bedeutete. Auf dem Bild liegt eine nackte Frau auf ihrem Bett, das mit vielen Kissen bedeckt ist. Daneben steht eine schwarze Dienerin, die das Bett soeben zurecht macht, vielleicht für männlichen Besuch? Olympia schaut ruhig und dem Betrachter direkt in die Augen. Sie hat eine Blume hinter dem linken Ohr, die Beine leicht übereinandergeschlagen und ihre linke Hand auf dem rechten Oberschenkel, so dass ihre Scham verdeckt ist. Männliche Betrachter des Bildes werden sicher häufig den Blick der Frau mitsamt ihrem wunderbaren Körper als eine ganz persönliche Einladung verstehen und wahrscheinlich würden nur wenige diese Einladung nicht annehmen. Paul Gauguin hatte eine Fotografie dieses Bildes sein Leben lang bei sich, und obwohl er Bilder von Rembrandt, Dürer, Holbein, Degas und natürlich van Gogh in seinem privaten Besitz hatte, war ihm dieses Bild von Manet stets das liebste. Er hatte das Bild gesehen und sich sofort in diese Frau verliebt, die für ihn so etwas wie die geniale Inkarnation allerFrauen dieser Welt in ihrer schönsten, begehrlichsten und erotischsten Variante repräsentierte. Bei diesem Anblick hatte er wahrscheinlich beschlossen, auch so malen zu wollen. Er hat es schlieÃlich geschafft. Seine portraitierten Frauen, die meisten davon nicht viel mehr bekleidet als die Olympia, gehören heute zu den berühmtesten Bildern der Welt.
Koke
Als er seine künstlerische Sehnsucht entdeckte und sie nicht mehr verheimlichen konnte, hatte seine Frau Mette ihn zur Rede gestellt. Sie fühlte sich betrogen und glaubte, er habe diese Sehnsucht schon immer in sich verspürt, sie aber wissentlich vor ihr verheimlicht. Er hat ihr unschuldig und ehrlich geantwortet, er habe es ihr nicht sagen können, weil er es selbst nicht gewusst habe. Sehnsüchte sind nicht immer bewusst, schlummern oft im Verborgenen des Unbewussten, bis sie durch einen Zufall oder das Schicksal ans Tageslicht kommen, und von da an begleitet von überwältigenden Gefühlen, die eigene Bestimmung und das Glück gefunden zu haben, das weitere Leben beherrschen. Aber nur in wenigen Fällen ist diese Befreiung auch mit dem erwünschten Erfolg verbunden. Nicht selten ist das Glück der erkannten Sehnsucht mit dem Schicksal des verkannten Künstlers verbunden. Aus dem erfolgreichen Börsenmakler Paul Gauguin wurde der
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