Sehnsucht
Aufgabe war es also herauszufinden, woher die Sehnsucht kam und was hinter ihr steckte, warum sie sich gerade jetzt meldete, welche Gefühle sie damit verband, welche Beziehung zwischen dieser Sehnsucht und ihrer Partnerschaft bestand und seit wann sie die Sehnsucht empfand. Sie musste auf diese anstrengende Weise ihre Gefühle mit ihrem Verstand reflektieren, damit aus dem Bauchgefühl eine solide Lebensentscheidung werden konnte. Wenn sie dies nicht getan hätte, wäre sie wahrscheinlich nach drei Wochen mit vielen Schuldgefühlen wieder zu ihrem Mann zurückgegangen und schnell wieder unglücklich geworden, was beiden nicht geholfen hätte. Das Paar hatte keine gemeinsamen Kinder, der Ehemann hatte aus einer früheren Ehe einen Sohn, zu dem er aber nur noch sporadischen Kontakt hatte. Das Paar hatte es sich in ihrer Beziehung, in der Gemeinde, kurzum im Leben gemütlich eingerichtet, es war ein gemütlicher Stillstand ohne Entwicklungen oder gar Herausforderungen.
Musik bedeutete für sie ursprüngliche Lebendigkeit und ihre Partnerschaft erschien ihr demgegenüber wie tot. Sie wollte raus aus dem Betonbunker, in dem sie mit ihrem Mann seit 15 Jahren lebte, dieser »Garage mit Haus« dran, wollte wieder in die Stadt ziehen, am liebsten in das Studentenviertel, dort in Cafés sitzen, vielleicht mit ihrer Schwester einen Blumenladen eröffnen und vor allem Musik machen. Sie wollte nicht mehr Bach im Chor in der Dorfkirche singen, sondern wilde Sachen aus Rock, Jazz oder Pop in einem verrauchten Keller-Club mit guten Musikern spielen. Sie wollte nicht mehr zu Hause sitzen und sehnsüchtig all dieCDs der guten Sängerinnen hören und von einem verpassten Leben träumen, nein, sie hatte beschlossen, selbst so zu singen. Wollen Sie wissen, wie es mir geht? hatte sie mich gefragt und dann gleich selbst geantwortet:
Es gibt einen Song von Marianne Faithfull (Ballad of Lucy Jordan), da singt sie: »At the age of 37 she realized she never rode through Paris in a Sportscar with the warm wind in her hair â¦Â« Ich bin zwar keine 37 mehr, aber mir ist klar geworden, dass ich das Leben verpasse, wenn ich so weiterlebe wie bisher, ich bin noch richtig lebenshungrig.
Ihr Mann hoffte auf einen vorübergehenden Anfall, wie er ihn schon einige Male bei seiner Frau erlebt hatte. Ich habe ihm ein Buch empfohlen, um ihm die Bedeutung des Singens näherzubringen: Der Klang der Zeit von Richard Powers. Er hatte es nicht geschafft, es ganz zu lesen, das Buch sei zu dick, meinte er, aber wir alle wussten, dass diese Begründung nicht stimmte. Denn diesmal hatte seine Frau keine einfache Krise, die Situation war viel ernster, das hatte er sehr schnell gemerkt. Sie hatte eine Band gefunden, in der sie singen und spielen konnte und sie verbrachte dort immer mehr Zeit. Das eigentlich beunruhigende aber waren ihre inneren Wandlungen, die er hilflos miterlebte und die sie täglich attraktiver machten. Er hatte die Angst, auf dem Bahnsteig stehen zu bleiben, während sie im Schnellzug davon fuhr. Sie hatte dieses Angstbild bestätigt, aber in ihrer Phantasie war es ein besonderer Schnellzug mit einem Musikabteil in einer einzigen langen Jamsession, für sie ein richtig toller Zug. Sie hatte immer wieder Zweifel, ob sie ihren Weg gehen und ihrem Mann all dies antun könne. Sie hatte langsame kleine Schritte der Distanzierung versucht, dabei Rückfälle erlitten, sich bei ihm entschuldigt, aber letztlich war sie immer wieder zu ihrem Traum zurückgekehrt. Dann hatte sie geglaubt, es sei dieser Keyborder in der Band, der ihr keine Ruhe mehr lieÃ. Sie hatte mit ihm geschlafenund danach nüchtern festgestellt, nein, das sei es nicht. Weder dieser Mann, noch der andere Sex seien ihr Ziel, eigentlich sei sie überhaupt nicht auf der Suche nach einem anderen Mann. Dass sie sich trennen wollte bedeutete nicht automatisch, dass sie einen anderen Mann wollte, es gab auch noch andere reizvolle Dinge im Leben und für sie war das nun mal die Musik.
SchlieÃlich war sie in die kleine Zwei-Zimmer-Altbauwohnung gezogen, in der vorher zwei Studenten gewohnt hatten, die ihre Kinder hätten sein können. Später sagte sie einmal, sie habe mit ihrem Mann sehr früh ihren eigenen Vater geheiratet, einen behütenden und väterlichen Mann, der für sie Sicherheit und Verlässlichkeit ausgestrahlt hatte. Damals war das für sie ideal gewesen, weil sie noch
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