Sehnsucht
so unsicher und unreif war. An seiner Seite sei sie aber reifer und selbstsicherer geworden, während er sich einfach nicht weiterentwickelte. Sie habe schon seit ihrer Kindheit den Traum gehabt, Musik in einer Band zu machen, es sei wie eine Wiederentdeckung gewesen. Das alles sei ihr klar geworden, als sie vor zwei Jahren mit ihrem Mann auf einem Konzert gewesen sei, bei dem die Sängerin so eine Kraft und Lebensfreude ausgestrahlt hatte, so glücklich beim Singen erschien, dass sie den ganzen Abend danach geheult hatte, ohne zu wissen, warum. Ihr Mann hatte versucht, sie zu trösten, aber damit hatte er alles nur noch schlimmer gemacht. Er hatte einfach nicht verstanden, warum sie so traurig war und sie hatte es ihm nicht wirklich sagen können.
Heute wohnt sie die Hälfte des Jahres im südlichen Ausland und die andere Hälfte in Hamburg. Ihr Mann hat den Kontakt zu ihr abgebrochen, weil er es nicht ertragen konnte mitanzusehen, wie glücklich sie ist. Sie hatte noch einmal versucht, ihm zu erklären, wie bedeutsam es für sie sei, ihre Sehnsucht zu leben, aber er hatte sie nicht verstanden. Siehst du , hatte sie gesagt, und deshalb musste ich mich von dir trennen . Nachdem sie sich innerhalb der Partnerschaft zu einer reifen und selbstsicheren Frau entwickelt hatte, stand ihr derselbe Partner bei der weiteren persönlichen Entwicklung ihrer Sehnsüchte und Ambitionen eher im Wege. Deshalb hatte sie sich gegen ihn entschieden, weil er zu der alten Elena passte, aber nicht mehr zu der neuen.
Heute lebt sie mit einem Musiker zusammen, der jünger ist als sie, während ihr Mann zwölf Jahre älter war. In ihre Wohnung haben sie eine schalldichte Box eingebaut, in der sie zu jeder Tages- und Nachtzeit Saxophon spielen können. Wenn ich ein Mann wäre , hat sie mal scherzhaft gesagt, dann würden mir alle eine Midlifecrisis unterstellen, so ganz typisch mit Trennen und dann jüngerem Partner, aber als Frau bin ich einfach hip und modern und lebe meine Sehnsucht. Ist doch toll, oder? Ich habe sie gefragt, wie sie sich verhalten hätte, wenn ihr Mann ihre Sehnsucht verstanden hätte und sie hat geantwortet: Dann hätte er vielleicht selbst noch eigene Sehnsüchte haben müssen. Dann sagte sie ganz ernsthaft: Wer keine Sehnsüchte mehr hat, der ist doch irgendwie tot! und ich habe ihr nicht widersprochen.
Vom Makler zum Maler
Bankenkrisen haben auch ihre Vorteile und manchmal verhelfen sie sogar verborgenen Sehnsüchten zum Durchbruch. Und da Sehnsüchte nicht nur romantische Menschen befallen, sondern durchaus auch hart kalkulierende Börsenmakler von ihnen tief betroffen sein können, gab es einen 35-jährigen Börsenmakler im Paris des Jahres 1883, der ebenso erfolgreich wie sehnsüchtig war und der später einer der gröÃten und berühmtesten Maler seines Landes werden sollte. Mehr als eine Ahnung davon hatte er allerdings noch nicht. Es war das Jahr, in dem Karl Marx in seinem Londoner Exil starb und in dem die Pariser Börse wegen einer kapitalistischen Wirtschaftskrise schlieÃen musste. Aber zumindest dieser erfolgreiche Börsenmakler war über den Verlust seiner Arbeit überhaupt nicht traurig, im Gegenteil. Als sein Chef ihm zerknirscht mitteilte, dass er ihn nicht weiter beschäftigen könne, soll er ihm sogar die Hände geküsst und sich bei ihmbedankt haben mit den Worten Danke patron. Sie haben soeben einen wahren Künstler aus mir gemacht . 17 Seine besorgte Frau konnte allerdings tagelang nichts essen, während er auf einer Wolke befreiter Glückseligkeit schwebte.
Der erfolgreiche Börsenmakler lebte mit seiner dänischen Frau Mette, die er immer liebevoll die Wikingerin nannte, im noblen 16. Pariser Arrondissement. Sie hatten bereits vier kleine Kinder (eins sollte noch folgen) und lebten eigentlich über ihre finanziellen Verhältnisse. Seine Frau wollte es aber so. Sie war strebsam, wollte in den feinen Pariser Kreisen weitere Höhen erklimmen und freute sich sehr über seinen beruflichen Erfolg, vor allem den finanziellen Teil, über dessen Verwendung sie dann auch weitgehend bestimmte. Schon damals gab es Bonuszahlungen für erfolgreiche Börsenmakler und auch er hatte solche Boni in seinen bisherigen Berufsjahren stets bekommen. Bereits zehn Jahre zuvor, im Jahre 1873, hatte er 3000 Francs bekommen, eine durchaus ansehnliche Summe für damalige Verhältnisse, die seine
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