Sehnsucht
Selbstgenügsamkeit
Wer die Sehnsucht lebt, sie spürt, ihr nah ist, der wird im positiven Falle ein unruhiger Geist, und leidet im negativen Fall unter einer anstrengenden Erregung, die ihn dauerhaft suchend undgleichzeitig niemals zufrieden sein lässt. Vielleicht war Casanova der Prototyp dieses zugleich produktiven und permanent erregten Menschen, der von seinen Sehnsüchten von einer Frau zur nächsten, von einer Wissenschaft zur nächsten und von einem Land und Herren zum nächsten getrieben wurde, bis er einfach physisch nicht mehr konnte und sich in sein Schicksal ergeben musste, aber beim Schreiben seiner Memoiren den Höllenqualen der Sehnsucht noch einmal vollends ausgesetzt war. Und heute? Manche meinen, wie der Philosoph Sloterdijk, diese Art der dauernden Erregtheit sei gar das Wesensmerkmal unserer postmodernen Gesellschaft. Woher kommt diese Erregung? Werden wir als Menschen eigentlich von Trieben gesteuert oder ist es nicht vielmehr ein äuÃerer Sog? Werden wir von der Natur gedrängt oder von der Sehnsucht nach dem Leben angezogen â oder vielleicht sogar beides?
Sehnsucht ist der permanente Stachel in der Selbstgenügsamkeit unseres Daseins. Und das ist gut so. Sehnsucht mahnt uns, niemals in banaler Zufriedenheit zu versinken, unsere ganz persönlichen Träume und Wunschträume zu verfolgen, manchmal auch unsere sozialen Utopien. Sehnsucht ist eine permanente Suche nach Vollkommenheit, nach Perfektion oder gar dem Absoluten. Sie weist stets über das Reale und Konkrete hinaus, deshalb ist sie dem Göttlichen auch so nahe, sind Spiritualität und Transzendenz ihre Schwestern. Die Sehnsucht will alles stets besser machen, will das Leben optimieren. Sie entsteht aus einer täglichen oder letztendlichen Bilanzierung, aber auch aus einer Distanz zum eigenen Leben. Sie kann von innen kommen oder von auÃen, aus sich selbst oder von anderen, sie ist manchen in die Wiege gelegt, aber richtig schmerzlich, bitter-süà und traurig-schön wird sie erst mit zunehmendem Alter, wenn das Ende der Möglichkeiten absehbar ist.
Ein schlafender Riese
Sehnsucht kann für manche ein beständiges Hintergrundgefühl des Lebens sein und für andere ist sie wiederum eine plötzliche Begegnung. Ein Klient sagte mir einmal, ihm sei überhaupt nicht bewusst gewesen, was er alles vermisse und wonach er sich so sehr sehne, bevor er seine Geliebte traf. Sehnsucht ist ein schlafender Riese, der jederzeit wach werden kann. Und man weià nicht, ob man ihn schlafen lassen oder doch lieber wecken soll.
Die Sehnsucht enthält viel Wehmut, Trauer und einen tiefen Schmerz über einen Verlust. Wer einen wichtigen Menschen verloren hat, wer diese Grausamkeit des Lebens ertragen musste, wenn beispielsweise ein Kind vor den Eltern stirbt, oder wenn einem der geliebte Partner genommen wurde, der wünscht sich in der Trauer nicht nur den verlorenen Menschen zurück, sondern findet in der Sehnsucht wieder eine Nähe zu ihm und auch einen Trost für den schmerzlichen Verlust. Die Sehnsucht kann trösten und quälen zugleich.
Wieso ist die Sehnsucht so mächtig, dass die Betroffenen manchmal spontan und radikal ihr Leben ändern? Jemand kündigt plötzlich, entwickelt mit seinem Coach eine neue Geschäftsidee und macht sich selbständig; ein Paar ist erst seit drei Wochen zusammen, zieht in eine gemeinsame Wohnung und plant zugleich ein Kind; andere trennen sich unmittelbar nach einem banalen alltäglichen Streit in der Hoffnung, dass jetzt alles anders wird; Familien wandern aus und suchen in der Ferne die Verwirklichung ihrer Träume. Sehnsucht ist nicht nur eine Idee oder ein Gefühl, sondern beides in einer explosiven Mischung. Ideen haben allein keine groÃe Kraft, und Gefühle sind nicht unbedingt vernünftig, aber beide zusammen potenzieren sich wie Nitro und Glyzerin zu einem wirkungsvollen Sprengstoff. Eine Idee, die mit der Macht und Energie der Gefühle besetzt wird, kann wahrlich ein Leben verändern. Darin liegt die Kraft der Sehnsucht.
Das denkbar Mögliche und das realistisch Unmögliche
Sehnsüchte sind Ideale, die mit Gefühlen besetzt werden und damit eine ungeahnte Energie entfalten. Sie sind als solche Motive menschlichen Handelns, und manchmal versteht man die Handlungen eines Menschen erst, wenn man seine Sehnsüchte kennt. Für den Betroffenen selbst ist seine Sehnsucht
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