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Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Titel: Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jana Simon
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Eisernen Kreuz auszeichnet.
    JS     Wie seht ihr das im Nachhinein: Aufbruch in ein neues Deutschland – das klingt, als wärt ihr schon damals sehr politisiert gewesen.
    CW     Politisiert in einem primitiven Sinn. Wirklich etwas von Politik verstanden habe ich natürlich nicht. Was haben wir überhaupt gewusst? Sieh mal, wenn du in deinem ganzen Umfeld nicht einen einzigen Menschen hast, der dir erzählt, was tatsächlich in der Welt geschieht, wie sollst du als Kind wissen, was vor sich geht? Wir haben im Radio nur die Nazisender gehört, keine ausländischen Programme. Meine Eltern hatten zu große Angst. Und ich habe als Zwölfjährige das Schwarze Korps gelesen, das war eine finstere SS -Zeitung.
    GW     Das gab es in meiner Familie nicht.
    JS     Warum gab es das in deiner Familie nicht?
    GW     Wegen der Sprachohnmächtigkeit. Politik war bis zum Krieg überhaupt kein Thema. Diese neue Mutter, Feechen, wie sie genannt wurde, hatte in einem Heim für behinderte Kinder gearbeitet und erzählte, wie kläglich sie sich bewegten. Für sie waren diese Kinder »unwertes Leben«, die sich nicht fortpflanzen dürften, die man unfruchtbar machen müsse. Sie war sehr mit einem SS -Mann befreundet und führte richtige Nazibücher bei uns zu Hause ein.
    CW      Volk ohne Raum stand bei uns im Bücherschrank.
    GW     Als Feechen kam, brachte sie ein »Führerbild« mit. Erst hing Hindenburg bei uns über dem Schreibtisch, dann Hitler.
    JS     Wie hast du auf sie und ihre Ansichten reagiert?
    GW     Das war so gar nicht meine Natur, dass ich nun ein kräftiger Sportler und Schwimmer sein sollte. Sie führte ein strenges Regime ein, was wir Kinder alles machen mussten.
    JS     Es gab nicht viel Liebe?
    CW     Überhaupt nicht!
    GW     Später, 1950 , ist sie elendig an Krebs gestorben. Sie sagte: »Mit dieser neuen Welt will ich nichts zu tun haben!« Sie hat wohl bis zuletzt an die Nazis geglaubt.
    CW     Als wir anfingen uns anzunähern, sagte Feechen zu meiner Mutter: »Der Gerhard ist doch kein Familienmensch, die Christa soll sich fernhalten!«
    GW     Ich bin 1946 nach der Vereinigung von KPD und SPD gemeinsam mit einem Schulfreund in die SED eingetreten. Wir wollten die Alten ärgern. Das war der Hauptgrund. Am Mittagstisch verkündete ich: »Ich bin jetzt in die SED eingetreten.« Meinem Vater fiel der Löffel herunter. »Das wirst du noch einmal bereuen!«, sagte er.
    Wir lachen.
    JS     Ein Prophet!
    GW     Mein Vater hatte gesagt, er geht nie wieder in eine Partei. Und nun triumphierte ich. Ich war so stolz, eine mutige Tat. Damals war es leicht einzutreten, man brauchte noch keinen Bürgen. Wir waren 18 und hatten nicht sehr viel Ahnung. Der Lehrer Schröder hatte uns imponiert, ein alter Sozialdemokrat, der im KZ Buchenwald gewesen war und Literatur unterrichtete. Aber auch die Lehrer aus der Nazizeit waren nach 1945 zum Teil noch da, der Musiklehrer, der hatte das »schöne« Lied »Die Hakenkreuzfahne« komponiert.
    JS     Könnt ihr euch an den Tag erinnern, an dem ihr erfahren habt, was wirklich passiert ist – als ihr erstmals von den KZ s, von der Judenvernichtung gehört habt?
    CW     Ein Bild habe ich vor Augen: Ich sehe mich von außen auf einer Bank sitzen und ein Buch lesen, das ganz schlecht gedruckt ist. Der Autor schreibt über Konzentrationslager. Ich schaue auf und denke: Wenn das wirklich so war, dann war alles falsch. Warum habe ich das gedacht? Die Nazis hatten keinen Hehl daraus gemacht, dass sie ihre Gegner vernichten wollten. Die Judenvernichtung in diesem Ausmaß haben die Nazis aber geheim gehalten. Und warum haben sie sie geheim halten müssen? Weil im Hintergrund noch die christlichen Ideale wirkten, das, was man für Anstand hielt, wie man als Mensch sein sollte. All das war nicht mit dem Menschenbild der Nazis vereinbar. Das Kleinbürgertum flog Hitler zu. Andererseits war nur eine gewisse Schicht bereit und in der Lage, als SS -Männer so zu leben und sich zu verhalten, wie der »Führer« es ihnen vorschrieb.
    Wir gingen nicht in die Kirche. Ich war konfirmiert worden, meine Oma fand, das gehörte sich so. Meine Mutter war keine Nazigegnerin, aber sie hatte christliche Wertvorstellungen. Sie hat anderen geholfen, zum Beispiel dem Studienratehepaar Lehmann. Es wohnte in Sichtweite von uns und kaufte jahrelang bei meinen Eltern ein. Eines Tages stand Studienrat Lehmann in unserer Wohnstube und war sehr

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