Sei lieb und büße - Thriller
dich raus!«
Sie beißt die Zähne zusammen. Das Wasser sinkt, doch es ist so schwer, sich auf den Beinen zu halten. Sie spürt, wie die Knie wegsacken. Sie versucht, sie durchzudrücken, spannt ihre Muskeln an. Aber sie wollen ihr nicht mehr gehorchen. Wieder knickt sie ein.
»Sina! Du musst stehen bleiben!«
Wie durch einen Schleier sieht sie Max die Leiter heruntersteigen, dann steht er neben ihr, schlingt seine Arme um sie und presst sie fest an sich. Sie spürt seine Wärme durch das kalte Wasser und plötzlich versinkt sie schwerelos in der Schwärze ihres Gefängnisses.
72
Max.
Der erste Gedanke, als sie die Augen aufschlägt.
Es ist hell und trocken und riecht angenehm. Keine Fäulnis in der Luft. Eine weiche, saubere Bettdecke, ein Krankenhauszimmer.
Sina dreht den Kopf. Da sitzt er und lächelt.
»Na, ausgeschlafen?«
»Danke«, wispert sie, mehr kann sie nicht sagen.
»Danke nicht mir. Wenn Tabea nicht gewesen wäre, hätte ich dich nicht retten können.«
»Tabea?«, fragt Sina erstaunt.
»Ja. Während du auf normale Körpertemperatur hochgefahren wurdest, haben sie ihr den Magen ausgepumpt.«
»Hat sie …?« Betroffen richtet sie sich im Bett auf. Sie erinnert sich, wie verletzend sie in ihrem letzten Telefonat zu ihr gewesen ist.
»Nein, Laureen und Bessy haben ihr eine Überdosis Tabletten eingeflößt. Ich versichere dir, dass dies ihre letzte Gräueltat war. Da kommen jetzt versuchter Mord in zwei Fällen und eine schwere Körperverletzung mit Todesfolge auf sie zu. Der Witz ist, dass sie für die Geschichte mit Mia gar nicht belangt werden können.«
Die Tür fliegt auf.
»Sina!« Ben stürmt ins Zimmer und rennt zu ihr, gefolgt von ihrem Vater.
»Ich hab sooooo Angst gehabt!«
»Um mich?«
Ben nickt und setzt sich zu ihr aufs Bett. »Obwohl Max mir versprochen hat, dass alles gut geht.«
Ihr Vater beugt sich zu ihr hinunter und drückt sie an sich, schweigend und fest, so fest, als wollte er sie nie wieder loslassen. Dann küsst er sie auf die Stirn und richtet sich auf.
»Ich habe gehört, dass wir uns bei Ihnen bedanken dürfen«, sagt er zu Max und schüttelt seine Hand. »Ich bin Sinas Vater.«
Die Schwester prüft die Temperatur und reduziert zufrieden die Durchlaufgeschwindigkeit des Tropfes.
»So ist es brav. Jetzt schön schlafen und morgen ist wieder alles beim Alten.«
Sina lächelt sie müde an und schaut ihr nach, als sie das Zimmer verlässt. Alles beim Alten. Wirklich? Wird es das je wieder sein? Wird sie je Mias Leid vergessen können oder Riks Tod? Den Gestank des Wassers. Oder das Plätschern. Ihre Todesangst. Wie soll sie Laureen und Bessy vergessen? Ihre Falschheit. Ihre Abgebrühtheit. Wie kann sie die Schule je wieder betreten, nachdem die Fotos von ihr die Runde gemacht haben? Wie kann sie die Gemeinheiten vergessen, die auf Facebook über sie abgelassen wurden? Wie soll sie Céline gegenübertreten? Oder Tabea? Wie sich entschuldigen? Wie sich bedanken? Sie seufzt.
»So schlimm?«
Sie reißt den Kopf herum. Max schließt die Tür so lautlos hinter sich, wie er sie geöffnet hat.
»Die Besuchszeit ist längst vorüber.«
»Störe ich?«
Sina schüttelt den Kopf und er setzt sich an ihr Bett.
»Ich wollte sicherstellen, dass du nicht aus lauter Langweile irgendwelche Dummheiten machst. Wieder baden gehst oder so was. Ich hasse nämlich kaltes Wasser. Auch wenn ich Halbschotte bin.«
»Du bist doof«, entgegnet Sina lachend.
»Manchmal, ja.« Grinsend zieht er ein Taschenbuch aus seiner Innentasche. Ihr Buch. Er muss es von zu Hause geholt haben. »Ich dachte, ich lese dir ein paar Seiten vor, damit du nicht die ganze Nacht von alten Zisternen träumst.«
»Das würdest du tun?« Ungläubig betrachtet Sina ihn. Wann hat ihr das letzte Mal jemand etwas vorgelesen? Sie kann sich nicht erinnern. Sonst ist immer sie diejenige, die vorliest. Sie ist diejenige, die aufpasst, die Verantwortung übernimmt und sich kümmert. Sie …
»Ist das so ungewöhnlich?«
Sina blinzelt. Doch sie sieht an Max’ verlegenem Lächeln, dass er die Tränen bemerkt hat, die sie vor ihm verstecken will. Max ist hier, um ihr vorzulesen. Um auf sie aufzupassen. Weil er sich um sie sorgt. Sie mag. Vielleicht mehr als mag. Melle wird ihr nie glauben, was in einer Woche alles passiert ist. Sina kann sie fast stöhnen hören, weil sie alles verpasst hat.
Dann beginnt Max zu lesen. Sie schließt die Augen und lauscht der Geschichte, ohne ihr zu folgen, lauscht den Worten
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