Sei mein Moerder
geworden, riss sich aber schließlich zusammen, denn das Ritual erforderte seine Konzentration, außerdem die vielen Verwandten und seine Mutter, die er stützte.
Warum hatte Gabi das getan?
Warum hatte sie Mutter nicht angerufen und gefragt, wo die Beerdigung stattfinden würde? Warum nahm sie Marlies das Recht, ihren Großvater zu beerdigen?
Der Zorn ebbte auch nach der Beerdigung nicht ab, ebenso wenig wie auf der Fahrt zurück in die City.
Derart gestimmt öffnete er den Brief.
Im selben Moment klingelte das Telefon.
Er legte den Brief, auf dem einmal mehr der ekelhafte Kussmund prangte, auf den Wohnzimmertisch. Wer mochte das sein? Mutter? Gabi? Marlies? Das LKA?
Es war Will Prenker. Den hatte Mark völlig vergessen.
»Tut mir leid, Will. Ich habe heute meinen Vater zu Grabe getragen. Danach hatte ich anderes im Sinn, als Sie anzurufen.«
»Und wie geht es Ihnen jetzt?«
»Beschissen! Können wir unser Gespräch auf morgen verlegen? Ich kann Ihnen sowieso noch nichts sagen. Viel mehr als das, was morgen früh in der Morgenpost oder der Bild steht, wissen wir auch nicht. Ich muss Ihnen ja nicht sagen, wie lange wir auf die Auswertungen der Spuren warten müssen.«
Mark meinte, Prenker nicken zu hören.
»Also telefonieren wir morgen«, sagte der Ermittler.
Und Mark legte auf.
Aggression ist ein sozialpolitisches Problem und im ethischen Sinne bedenklich, außerdem ist sie der Bruder der Depression.
Mark als Fachmann wusste, wie er seine Gefühle einzuschätzen hatte, zumindest hoffte er das. Innerhalb der Psychotherapie betrachtete die Gestalttherapie Aggression als eine Form der Erregung, die auch dazu diente, Hindernisse zu beseitigen oder Neues aus der Umwelt für den Organismus assimilierbar zu machen. Destruktiv oder zu Gewalt wurde die Aggression erst unter bestimmten äußeren oder inneren Bedingungen.
Und die liegen bei mir vor!
Er las sich wie in einem offenen Buch.
Stress! Ich stehe unter Stress! Ich taumele auf einem schmalen Grat zum Wahnsinn, auch wenn ich mich noch einigermaßen normal fühle. Dieser Grat ist wie eine Messerschneide und meistens spürt man nicht, wenn man ihn überschreitet.
Gestern hätte er am liebsten Gabi die wohlgeformten Zähne ausgeschlagen, heute hatte er sich in düstere Gewaltphantasien geflüchtet, um die Beerdigung zu überstehen. Das war ein gefährlicher Zustand, der sehr schnell in eine Psychose umschlagen konnte. Das Kind konnte viele Namen haben.
Reizüberflutung war eines davon.
Was ihm geschah, ging jedoch noch einen Schritt weiter, denn es kreiste um sich selbst und endete wieder bei der Aggression, die er sogar sich selbst angetan hatte, indem er sich verstümmelte. Ein Kreislauf des Wahnsinns, erkannte Mark. Einen Klienten oder Patienten hätte er jetzt mit Medikamenten ruhig gestellt und vielleicht wäre das auch für ihn der richtige Weg gewesen.
Darüber, was eine Psychose war, stritten sich die Fachleute noch immer. Manche setzten es mit Schizophrenie gleich, andere wieder erklärten, dass eine Psychose nie ohne eine Nervenschädigung daherkomme, ohne jedoch die Anzeichen einer Schizophrenie zu zeigen, sondern vielmehr in den Bereich der tiefen Depression gehörte.
Letztendlich war es unwichtig, wie das Kind genannt wurde.
Mark begriff, dass er auf dem Weg war, den Verstand zu verlieren.
So etwas konnte sehr schnell geschehen, wie Soldaten in Kriegen erlebt hatten. Es genügte ein aktiver Feuerreiz, der das Gehirn überforderte, und schon war es um eine klare Sichtweise geschehen. Nicht selten endete ein solcher Zustand im Suizid.
Zumindest eine Möglichkeit, das Spiel zu beenden!
Der Gedanke erschien ihm reizvoll. Doch bevor er ihn zu Ende dachte, würde er den Brief lesen. Würde es müssen.
Verehrter Herr Dr. Rieger,
hier ist ihr zweiter Auftrag.
Sie werden eine Frau töten. Sagen Sie nicht, das sei unerträglich. Unerträglich ist der Mord an Kindern.
Die Frau heißt Lydia Brandt. Sie werden ihr morgen Abend um ziemlich genau 22 Uhr begegnen. Dann verlässt sie das Park Inn am Alexanderplatz. Sie fährt mit einem roten Porsche Richtung Grunewald.
Sie hat sehr kurze braune Haare, stoppelig geschnitten, ist ungefähr eins achtzig groß und ...
Erneut klingelte es, nun an der Tür.
»Verdammte Scheiße!«, rief Mark und warf den Brief voller Zorn auf den Tisch. Hatte er nie Ruhe? Wer störte ihn jetzt? Er sprang auf und stieß sich das Knie. Er humpelte zur Haustür und riss sie auf.
Vor ihm stand
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