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Seidel, S: Elfenzeit 16: Bestie von Lyonesse

Seidel, S: Elfenzeit 16: Bestie von Lyonesse

Titel: Seidel, S: Elfenzeit 16: Bestie von Lyonesse Kostenlos Bücher Online Lesen
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so fern von ihnen, ganz auf sich allein gestellt im eisigen Wasser. John Broom und seine
Pelleg
waren nicht die einzigen möglichen Kandidaten für eine Rettungsfahrt. Am Land’s End mit seinen plötzlichen Stürmen waren schon viel jüngere und besser ausgerüstete Kutter in Seenot geraten.
    Momentan sah es aber nicht nach einem Unwetter aus. Im Gegenteil.
    Ein ruhiger, unauffälliger Oktobertag ging zur Neige. Alles war friedlich an der kornischen Küste; es hatte nicht einmal einen nennenswerten Verkehrsunfall gegeben. Flammendes Abendrot spiegelte sich an den Häuserfassaden entlang der Piers mit ihren Teestuben und Andenkenläden, Blumengeschäften und fahrbaren
Fish & Chips
-Büdchen.
    Von Land’s End aus fuhren schon die ersten Fischerboote aufs Meer. An diesem Küstenabschnitt war man gut beraten, den Hafen noch bei Licht zu verlassen, auch wenn es bedeutete, dass man eine Weile untätig herumschippern musste, ehe der Nachtfang begann. Besser das, als an den Klippen zu zerschellen, die Cornwalls westlichsten Landzipfel wie ein schlecht gepflegtes Untiergebiss umringten. Die Friedhöfe des End waren voll von ertrunkenen Seeleuten, und nicht wenige Häuser am Kai von Pensance bis St. Ives trugen eine Gedenktafel mit den Namen ganzer Schiffsbesatzungen, die der tobende Atlantik nicht mehr hatte heimkehren lassen.
    Unzählige Tragödien hatten sich im Laufe der letzten Jahrhunderte abgespielt. Jeder Fischer kannte sie, und auch John Broom konnte mehr darüber erzählen, als ihm lieb war. Es gab kaum eine Familie in den Hafenstädten, der das Meer nie einen Blutzoll abverlangt hatte, und deshalb fuhr auf den Kuttern nach wie vor – trotz GPS, Radar und Küstenwache – ein unangenehmer Begleiter mit: die Furcht.
    Wer wusste schon, ob die dunkelsmaragdgrüne See an diesem Tag friedlich blieb? Ob man heil wieder nach Hause kam? Unter den schäumenden Wellenkämmen verbarg sich weit mehr als Felsen, Riffe und havarierte Segler aus alter Zeit. Rettungsboote und Technik waren ein Segen, aber alles konnte man selbst mit ihnen nicht bezwingen.
    Nein, wahrlich nicht!
, dachte John, als er den Dieselmotor startete.
    Tuckernd verließ die
Pelleg
rückwärts ihren Liegeplatz am Kai, schwenkte träge über Steuerbord und reihte sich ein. John fuhr im Konvoi mit den anderen Fischern, und wie immer bei der Fahrt aus dem Hafen stimmten die Männer ein altes Shanty an. Zum Abschied und als Glücksbringer. Seeleute waren zutiefst abergläubisch, das lag an ihrem gefährlichen Beruf. Sie glaubten, wenn sie etwas von sich selbst an Land zurückließen – in diesem Fall ihre Stimme –, würde das Schicksal sie am Ende der Nachtfahrt wieder damit vereinen.
    Der Wind stand günstig und trug den Gesang noch eine Weile an die Pier. Doch als die Brandung überwunden war und auch der letzte Bug durch tiefes Wasser pflügte, verwehte das alte Seemannslied, und die Kutter fächerten auseinander. John und seine Kollegen winkten sich ein letztes Mal zu, wünschten sich gegenseitig
Guten Fang!
und zogen danach ihrer Wege.
    Etwa fünfundzwanzig Seemeilen südwestlich schimmerten die Scilly-Inseln durch den Abenddunst – mehr als hundertvierzig kleine Landflecken, dank des warmen Golfstroms mit subtropischer Vegetation begrünt. Der Strom beeinflusste auch die dortigen Fanggebiete: Die Krabben waren fett und die Fische zahlreich. Es dauerte nicht lange, und alle Boote waren auf Kurs.
    Schon begannen die Vorarbeiten für das Einholen. Auf der
Pelleg
wurden die Ladeluken geöffnet, Netze und Kühlkammern überprüft, alles Bewegliche an Deck gesichert. Zeit zum Innehalten gab es nicht. Man lachte und schwatzte bei der Arbeit, irgendwo lief ein tragbarer CD-Player.
Barcelooona!
, schmetterte Montserrat Caballé übers Meer.
    Urplötzlich tauchten Delfine auf, eine ganze Schule. Das war eigentlich nichts Besonderes in diesen Gewässern, trotzdem unterbrachen die Fischer ihre Tätigkeiten.
    John trat an die Reling und sah stirnrunzelnd zu den grauen Meeressäugern hin. Etwas stimmte nicht mit den Tieren! Sie wirkten ungewöhnlich nervös. Keckernd und quietschend kreuzten sie vor dem Bug der
Pelleg
, in hohen Sprüngen, hin und zurück. Als wollten sie das alte Boot an der Weiterfahrt hindern. Abdrängen.
    Aber warum?
    Längst war das Lachen an Deck verstummt, die Unterhaltung nur noch unruhiges Gemurmel. Dann schaltete jemand den CD-Player ab – und aus dem Raunen erwuchs ein kollektiver Aufschrei. Sobald er endete, war ein paar Sekunden

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