Seidel, S: Elfenzeit 16: Bestie von Lyonesse
Bridge, eine Meile nördlich von Camelford, an der König Artus das letzte Mal in die Schlacht gezogen sein soll. Oder schöne alte Küstenstädtchen wie Kingsand und Cawsand, mit ihren unglaublich kleinen, windschiefen Häusern aus viktorianischer Zeit, die man besichtigen durfte und mit dem Gefühl wieder verließ, in einer Puppenstube gewesen zu sein. Ebenfalls beliebt war St. Winwaloe, die verspukte Kirche von Poundstock und nahe der Widemouth Bay, vor deren Altar im vierzehnten Jahrhundert ein Geistlicher, der sich mit Strandpiraten eingelassen hatte, während der Andacht grausig ermordet worden war. Angeblich ging sein Geist noch immer dort um.
Selbst wirklich gefährliche Orte lösten in der Herbstsonne eher ein angenehmes Kribbeln als Furcht aus. Die versteckten Militäranlagen in den Wäldern bei Portwrinkle zum Beispiel, die so totenstill waren, dass sie eigentlich nur verlassen sein konnten. Und dennoch fühlte man sich beim Lesen der Warnschilder rings um das Gelände unentwegt beobachtet und ahnte instinktiv, dass die Aufforderung
Draußen bleiben!
ernst gemeint war.
Und dann war da das Bodmin Moor, Cornwalls düsteres Herz.
Es schlug im Nordosten der Grafschaft, im Städtedreieck Launceton, Bodmin und Liskeard. Weitab aller üblichen Touristenrouten und eine Welt entfernt von der subtropischen Küstenvegetation im Süden sowie den beeindruckenden Felsenbuchten am Atlantik mit ihren schäumenden Brechern.
Bodmin war ein Hochmoor. Es stand auf Torf, sodass man fast überall gehen konnte, ohne zu versinken. An den Randzonen gab es kleine Siedlungen und Dörfer. Sie wurden überwiegend von Farmern bewohnt, die ihr Vieh zum Weiden auf die Grünflächen des Moores trieben. Im Zentrum aber – dort, wo der raue kornische Wind ungehindert über die einsame Weite aus Wollgras, Heidekraut und uralten, magischen Steinformationen strich, wo die Lerchen nur für den Himmel sangen und keines Menschen Schritt mehr auf dem einstigen Wegenetz der Strandpiraten erklang – war das Bodmin Moor ein unerforschtes Grenzgebiet.
An jenen Stellen gab es Durchlässe zur Anderswelt, begann das Reich der Elfen, Gespenster und Irrlichter. Wenn sich in dieser Landschaft etwas bewegte, musste man vorsichtig sein und immer genau hinsehen.
Das galt auch für den Fall, dass jemand reglos im Heidekraut lag.
Besonders, wenn er aussah wie ein rothaariger Schotte.
Darby O’Gill – alias Alebin, der Elf – hatte Glück im Unglück gehabt, als ihn ein magischer Rückstrom in Asgard erwischte und von den furchtbaren Schlachtfeldern wegriss, die alles Göttliche in Odins Reich in Blut ertränkten. Der Getreue hatte einen Boon gesprochen, der unter allen Umständen verhinderte, dass Alebin starb. Eigentlich war das ein Fluch und als solcher auch von dem düsteren Kapuzenmann gemeint. Doch ohne diese Verwünschung läge Alebin nun nicht bewusstlos im Bodmin Moor, sondern mausetot.
Niemand hätte sein Dahinscheiden als Verlust betrachtet, weder in der Anderswelt noch im Menschenreich, davon konnte er getrost ausgehen. Alebin war ein rücksichtsloses, tückisches Spitzohr, dem selbst im Angesicht des drohenden Untergangs von Earrach und Crain nur eine einzige Haut wichtig war: die eigene.
Im Moment sah sie ziemlich mitgenommen aus. Alebin war mit seinem Zweckverbündeten, dem sterbenskranken Saul Tanner, in Island gewesen. Gemeinsam hatten sie sich bis nach Asgard vorgewagt – auf der Jagd nach Nadja und Talamh, dem zum damaligen Zeitpunkt noch ungeborenen Baby. Tanner hatte sich von dem Jungen Rettung und ewiges Leben versprochen. Alebin wiederum sah den Sohn des Frühlingszwielichts als Garanten für das, was er am meisten begehrte: Macht. Unbegrenzt, immerwährend, vollkommen. Er
musste
Talamh in seine Gewalt bringen, um jeden Preis und unter allen Umständen. Koste es, was es wolle!
Das tat es dann auch.
Der Kampf um das kostbare Kind hatte Odins Reich bis in die Grundfesten erschüttert. Uralte Grenzen hatten sich in jenen Momenten geöffnet, eherne Bannsprüche ihre Wirkung verloren, alles war in Aufruhr geraten. Der Sog des einstürzenden Vulkans hatte Alebin erfasst und quer durch die Unterwelt von Asgard gezogen. Er wäre dort noch unterwegs, wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit, hätte er nicht zufällig ein vergessenes Tor gestreift. Es war aus der Vergangenheit gekommen, und es führte in die Menschenwelt.
Nach Cornwall.
Ins Bodmin Moor mit all seinen Geheimnissen. Ab und zu stieß man dort auf rätselhafte
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