Seidel, S: Elfenzeit 16: Bestie von Lyonesse
in der Höhe überdacht. Sie diente normalerweise als Zufahrt für die Lieferwagen, die dem Modegeschäft nebenan neue Ware brachten. Gleich aber sollte sie zweckentfremdet werden.
»Da rein!«, befahl eine Keifstimme hinter dem Buggy. Sofort schwenkte das rosa Gefährt in die Zufahrt, und bevor es von der Dunkelheit verschluckt wurde, konnte man noch sehen, dass es keineswegs von allein durch die Gegend fuhr. Ein Wesen von groteskem, wildem Aussehen schob den Wagen vor sich her. Lange Haare, Schweinsnase, krötenbreiter Mund mit wulstigen Lippen – fest zusammengepresst, um die angehaltene Luft am Entweichen zu hindern: Das konnte nur Cor, der Spriggans, sein!
Allerdings hatte er nichts gesagt. Demzufolge befand sich noch jemand in der dunklen Einfahrt. Kau, der spindeldürre kleine Elf, trat nach vorn ans Ende der Wand. Nach einem prüfenden Blick auf die Straße hinaus schob er seine Kappe zurück und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn.
»Geschafft! Mann, war das eine gute Idee, die Babykarre zu klauen!« Er drehte sich um. »Du kannst aufhören zu schieben, Cor! Dahinten geht’s nicht weiter.« Abermals sah er nach vorn und gleich noch mal zurück. »Oh, und lass die Luft ab, Kumpel!«
Der Kau grinste, als ein Geräusch aus dem Dunkeln scholl, das irgendwie unanständig klang. Gleich darauf kam der Spriggans angewuselt. Cor hatte auf den wenigen Metern nicht nur ausgeatmet, sondern auch an Größe verloren. Winzig wie ein Chihuahua, jedoch von bedeutend runderer Statur, parkte er neben seinem Gefährten am Rand der Dunkelheit ein.
»Was wollten wir hier noch mal?«, fragte er zur Sicherheit nach.
Kau zog die Kappe vom Kopf und schlug nach ihm, traf den Spriggans aber absichtlich nicht, schließlich wollte er seinen alten Freund nicht vergrätzen: Wer hätte dann den Buggy geschoben?
»Was wir
wollen
, ist nach Hause gehen und schlafen«, erklärte der Elf in schulmeisterlichem Ton. »Was wir
müssen
, ist ihm was zu essen beschaffen. Diesmal will ich gewappnet sein, wenn er aufwacht.«
Der Kau zeigte bei diesen Worten nach hinten. Still und reglos stand der Buggy in der finsteren Einfahrt. Man hätte ihn nicht gesehen, wäre da nicht dieses eigenartige Licht gewesen. Es kam aus dem Inneren des Wagens; ein sanftes, schwaches Leuchten. Nur die Besonderen unter den Elfen hatten eine solche Aura – und was da schlafend auf Miss Julia Capulets gefüttertem rosa Steckkissen lag, war ganz ohne Zweifel etwas Besonderes: Nadjas und Davids entführtes Kind. Der Sohn des Frühlingszwielichts.
Talamh.
Cor und der Kau waren im Auftrag der Dunklen Königin unterwegs. Sie sollten das Baby zu ihr bringen, nach Tara, das sich zurzeit nur über die Menschenwelt erreichen ließ. Also von wegen: Wir springen mal kurz durch ein Elfenportal! Hatte sich was mit: Ein bisschen Magie, und schon sind wir da!
Laufen
war angesagt. Selbst sehen, wie man klarkam. Immer schön Obacht geben, dass man nicht entdeckt wurde! Fanmórs Späher mochten überall sein, und bestimmt hielten die Crain nicht als Einzige Ausschau nach den Entführern.
Wären Kau und der Spriggans allein gewesen, hätte ihnen diese schwierige Situation nur wunde Füße beschert und kein Kopfzerbrechen. Aber da war noch das Baby – dieses klitzekleine, niedlich anzuschauende Ding mit seinem zahnlosen Lachen und dem Unschuldsblick. Es musste gefüttert werden, gewickelt, unterhalten, transportiert, in den Schlaf gewiegt, angezogen, ausgezogen, umgezogen, beruhigt, wieder unterhalten, wieder gefüttert, gehütet und bewacht. Rund um die Uhr. Wenn es weinte, sorgte man sich um seine Gesundheit. Wenn es brüllte, stand die eigene auf der Kippe. Wenn es schwieg, hatte man Angst, es wäre tot.
Nicht, dass Cor und der Kau um das Baby getrauert hätten. Keine Sekunde lang! Nein, ganz gewiss nicht! Aber sie mussten es
lebend
nach Tara bringen, so lautete Bandorchus Befehl, und wer die Dunkle Königin kannte, der wusste auch, wie gut man daran tat, ihr zu gehorchen. So hatten sie das Baby Richtung Tara geschleppt, Tag um Tag, über Berg und Tal. Sie hatten es gewärmt, beschützt und versorgt. Inzwischen waren sie in Cornwall angelangt und am Ende ihrer Nerven, was aber keinen interessierte. Schon gar nicht das Baby. Es hatte ständig Hunger und wollte gefüttert werden, ohne auch nur einmal zu fragen, wo das ganze Essen eigentlich herkommen sollte.
»Siehst du den Supermarkt da drüben auf der anderen Straßenseite?«, fragte der Kau. »Gut! Also pass auf: Du
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