Seidel, S: Elfenzeit 16: Bestie von Lyonesse
Touristen im November ebenfalls und blieben aus. Entsprechend still war es an der Strandpromenade, wenn man von der donnernden Brandung, dem Heulen des Windes und den ewig kreischenden Möwen absah. Drei, vier Häuserreihen staffelten sich dort entlang. Hinter ihnen lag der Ortskern – wahllos verstreute Gebäude; Straßen und Gassen, hohe Bäume. Halbkreisförmig um Marazion wurde das sanft ansteigende Land bis zum Horizont unterteilt in Felder und Weiden, alle begrenzt mit dem für Cornwall typischen Zaunersatz, einer hüfthohen Mauer aus Natursteinen. Eine Straße führte in die Ferne. Dort fuhren auch die Greyhound-Busse entlang, deren Fahrer nicht im Traum auf die Idee kämen, zahlungsunfähige Passagiere mitzunehmen. Das wussten Fuchs und Hase aber nicht. Und vielleicht war es gut so.
Am Nachmittag ließen sich einige Leute auf den Straßen blicken. Freiwillig waren sie allerdings nicht unterwegs. Sie eilten vielmehr in den Supermarkt, zum Fleischer, in die Bäckerei und wieder nach Hause. Grund für ihre Eile, vom scheußlichen Wetter abgesehen, war die Uhrzeit. Halb vier. Noch dreißig Minuten, dann saß die komplette Bevölkerung von Marazion daheim in den guten Stuben und frönte einer innig geliebten englischen Tradition.
Tea Time.
Eine
Stunde Auszeit. Köstlicher Tee mit Milch oder clotted cream, dazu Sandwiches, Kuchen, Limonenkonfitüre mit fein geschnittenen Schalenstreifen auf Toast, Cookies und Pralinen. Was immer das Herz begehrte, zur Tea Time wurde es serviert. Verständlich, dass sich die Leute wie magisch heimwärts gezogen fühlten.
Nachmittags um halb vier hatte niemand eine Minute für den anderen übrig, nicht auf der Geschäftsstraße. Jeder hastete durch die Gegend; mit Tüten bepackt und darauf konzentriert, seinen Schirm so nach vorn zu stemmen, dass er den unangenehmen dünnen Schneeregen fernhielt und nicht vom Wind zerknittert wurde.
Sie alle
sahen
den Buggy. Aber keiner nahm ihn wahr.
Auf dem Bürgersteig entlang der Geschäfte, zwischen vorwärts eilenden Füßen und heruntergedrückten Schirmen, rollte ein rosafarbener Buggy dahin. Komplett mit transparenter Regenschutzabdeckung, gefüttertem Steckkissen, einem schaukelnden Frotteehasen an der Innenstrebe des Daches und einem Baby. Nur die glückliche junge Mutter, die man normalerweise hinter dem Kinderwagen antraf, war nicht da. Das konnte sie auch nicht, denn sie befand sich zurzeit auf der örtlichen Polizeistation. Um den Diebstahl ihres Buggys zu melden.
Mistress Capulet – so hieß sie tatsächlich – hatte ihn nur kurz vor einer Bäckerei abgestellt, als sie ihrer zwölf Monate alten Tochter ein Päckchen Zwieback kaufen wollte. Der Laden war rappelvoll gewesen, daher hatte sie den Wagen draußen gelassen. Wenigstens hatte sie ihr Kind mitgenommen.
»Elendes Verbrecherpack! Welcher dämliche Schwachsinnsdieb klaut denn einen
Buggy?
«, rief sie dem freundlichen Wachtmeister empört zu, der ihre Anzeige aufnahm. Ob er Mistress Capulet verstanden hatte, konnte man nicht erkennen. Wohl aber, dass der Mann mit großem Einsatz um den Erhalt seines Lächelns kämpfte, das immer mehr in Richtung Zähnefletschen abglitt.
Schuld daran war
Miss
Capulet. Sie hieß Julia – ja, tatsächlich. Ihre Mutter hatte dem wehrlosen Kind diesen Namen verpasst, weil sie Shakespeare liebte und es irgendwie
cool
fand, ihr Baby nach Romeo Montagues Angebeteter zu benennen. Blieb zu hoffen, dass die Kleine sich wenigstens halbwegs dem Namen entsprechend entwickelte und kein schlaksiger Tattoofreak wurde, mit geschorenem Kopf und wenig Interesse an den Romeos dieser Welt, die ihr allesamt zu
männlich
waren.
»Keeeeks!«, brüllte sie auf Mamas Schoß – unter Tränen, strampelnd, sich windend und mit hochrotem Gesicht. »Keeeeks!«
Es gab keinen Keks. Nicht mal den Schnuller, der ja unbedingt an einer Rauswurfsicherung im Buggy befestigt werden musste, damit sie bloß keinen Spaß hatte. Auch der Hase war weg, Doo-Doo, der sich so prima in die Länge ziehen und wegflitschen ließ, wenn es langweilig wurde beim Spazierenfahren. Also immer. Irgendwie hatte in diesen Minuten das ganze Leben für Fräulein Julia Capulet II seinen Reiz verloren, und so holte sie beim Brüllen ordentlich aus, um ihrer Mutter die Hacken der Lauflernschuhe kräftig vors Schienbein zu knallen. Wer mochte es ihr verübeln?
Unterdessen hatte der scheinbar führerlos dahinrollende Kinderwagen eine Lücke zwischen den Häusern erreicht; drei, vier Meter breit und
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