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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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das ich auch essen wollte. Du siehst, Lilie, es gibt Dinge, die sie uns von den Männern nicht erzählen. Wir können sie glücklich machen, indem wir ihnen Genuss bereiten. Und du weißt, es macht auch uns Spaß, wenn wir es zulassen.«
    Sie klang wie eine dieser alten Frauen, die immer versuchen, Mädchen vor der Hochzeit mit solchem Gerede Angst zu machen.
    »Du musst nicht lügen. Ich bin deine laotong . Du kannst ehrlich sein.«
    Sie löste den Blick von den Wolken und sah mich ganz kurz an, als würde sie mich nicht erkennen. »Lilie«, es klang traurig und mitleidig, »du hast wirklich alles, und doch hast du gar nichts.«
    Ihre Worte trafen mich tief, aber ich konnte gar nicht darüber nachdenken, denn sie gab zu: »Mein Mann und ich haben die Regeln über die unreine Zeit nach der Geburt verletzt. Wir wollten beide noch mehr Söhne.«
    »Söhne bestimmen den Wert einer Frau …«
    »Aber du hast ja gesehen, was passiert. Mein Körper empfängt zu viele Mädchen.«
    Auf dieses offensichtliche Problem hatte ich eine praktische Antwort.
    »Das Schicksal hat es ihnen nicht bestimmt zu leben«, sagte ich. »Sei dankbar, denn wahrscheinlich war mit ihnen etwas nicht in Ordnung. Wir Frauen können es nur wieder versuchen …«
    »Ach, Lilie, wenn du so redest, dann fühlt sich mein Kopf ganz leer an. Ich höre nur noch den Wind durch die Bäume rauschen. Spürst du, wie der Boden unter meinen Füßen nachgeben
will? Du solltest jetzt zurückgehen. Lass mich bei meiner Mutter sein...«
    Viele Jahre waren vergangen, seit Schneerose ihre erste Tochter verloren hatte, und ich hatte ihren Kummer nie nachvollziehen können. Doch mittlerweile kannte auch ich die Schattenseiten des Lebens besser und betrachtete die Dinge ganz anders. Es ist völlig akzeptabel, wenn sich eine Witwe entstellt oder Selbstmord begeht, um wegen der Familie ihres Mannes das Gesicht zu wahren, warum sollte dann eine Mutter beim Verlust eines oder mehrerer Kinder nicht zu extremen Handlungen getrieben werden? Wir kümmern uns um sie. Wir lieben sie. Wir pflegen sie, wenn sie krank sind. Söhne bereiten wir auf ihre ersten Schritte in die Männerwelt vor. Töchtern binden wir die Füße, wir lehren sie unsere Geheimschrift, wir bringen ihnen bei, gute Ehefrauen zu werden, gute Schwiegertöchter und Mütter, damit sie sich gut in das obere Gemach ihres neuen Heims einfügen können. Aber keine Frau sollte länger leben als ihre Kinder. Das widerspricht dem Gesetz der Natur. Und wenn sie es tut, warum sollte sie dann nicht von einem Felsen springen wollen, sich an einem Ast aufhängen oder Lauge schlucken?
    »Ich komme jeden Tag aufs Neue zum selben Schluss«, gestand Schneerose, während sie über das tiefe Tal unter ihr schaute. »Aber dann fällt mir immer deine Tante ein. Lilie, denk nur, wie sie gelitten und wie wenig uns das gekümmert hat.«
    Ich antwortete mit der Wahrheit. »Es hat ihr furchtbar wehgetan, aber ich glaube, wir waren ihr ein Trost.«
    »Weißt du noch, wie freundlich Schöner Mond war? Weißt du noch, wie zurückhaltend sie selbst im Tod war? Weißt du noch, wie deine Tante nach Hause kam und neben der Leiche stand? Wir hatten uns alle Sorgen ihretwegen gemacht, deshalb haben wir das Gesicht von Schöner Mond verhüllt. Deine Tante hat ihre Tochter nie wieder gesehen. Warum waren wir so grausam?«

    Ich hätte antworten können, dass die Leiche von Schöner Mond eine zu schreckliche Erinnerung für eine Mutter gewesen wäre. Doch stattdessen sagte ich: »Wir werden Tante bei der ersten Gelegenheit besuchen. Sie wird sich freuen, wenn sie uns sieht.«
    »Dich vielleicht«, sagte Schneerose, »aber nicht mich. Ich erinnere sie zu sehr an sich selbst. Aber eins musst du wissen. Sie ist mir jeden Tag eine Mahnung, nicht aufzugeben.« Sie reckte das Kinn vor, warf einen letzten Blick über die nebelverhangenen Berge und sagte: »Ich glaube, wir sollten zurück. Ich sehe, dass dir kalt ist. Und außerdem hätte ich gerne, dass du mir hilfst, etwas zu schreiben.« Sie langte in ihre Jacke und holte unseren Fächer hervor. »Ich habe ihn mitgenommen. Ich hatte Angst, die Rebellen würden das Haus anzünden, und er wäre verloren.« Sie sah mir in die Augen. Jetzt war sie voll und ganz wieder da. Sie atmete aus und schüttelte den Kopf. »Ich habe gesagt, ich würde dich nie wieder anlügen. Die Wahrheit ist, ich fürchtete, wir könnten hier oben sterben. Ich wollte, dass wir ihn bei uns haben.«
    Sie zog mich am Arm. »Komm weg vom

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