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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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Abgrund, Lilie. Es macht mir Angst, wenn ich dich da so stehen sehe.«
    Wir gingen zurück zum Lager, wo wir behelfsmäßig Tusche und Pinsel herstellten. Wir zogen zwei halb verbrannte Scheite aus dem Feuer und ließen sie abkühlen. Mit Steinen schabten wir die angekohlten Stellen ab und sammelten den Staub sorgfältig auf. Diesen Staub mischten wir mit Wasser, in dem wir ein paar Wurzeln gekocht hatten. Es war nicht so schwarz wie Tusche, aber für unsere Zwecke reichte es. Dann zupften wir aus dem oberen Rand eines Korbs ein Stück Bambus heraus und spitzten es an, so gut es ging. Das benutzten wir als Pinsel. Abwechselnd beschrieben wir in unserer Geheimschrift die Reise hierher, den Tod von Schneeroses kleinem Sohn und ihrem ungeborenen Kind, die kalten Nächte und den Segen der Freundschaft.
Als wir fertig waren, klappte Schneerose vorsichtig den Fächer zu und steckte ihn wieder in ihre Jacke.
    In dieser Nacht schlug der Metzger meine laotong nicht. Stattdessen wollte er das Liebesspiel, und sie gestattete es ihm. Danach kam sie zu mir ans Feuer, rutschte unter ihre Hochzeitsdecke, rollte sich neben mir ein und legte die Handfläche auf mein Gesicht. Sie war müde von den vielen schlaflosen Nächten, und ich spürte, wie ihr Körper ganz schnell weich wurde. Kurz bevor sie ganz einschlief, flüsterte sie: »Er liebt mich, so gut er kann. Jetzt wird alles besser. Du wirst sehen. Er hat sich geändert.« Und ich dachte, ja, bis er das nächste Mal seinen Kummer oder seine Wut an dem liebevollen Menschen neben mir auslässt.
     
    Am nächsten Tag verbreitete sich die Nachricht, es sei nun sicher, wieder in unsere Dörfer zurückzukehren. Wie gerne würde ich sagen, wir hätten nach drei Monaten in den Bergen genügend Tote gesehen. Doch dem war nicht so. Wir mussten an all denen vorbei, die wir bei unserer Flucht in die Berge zurückgelassen hatten. Wir sahen Männer, Frauen, Kinder, Babys – alle schlimm entstellt, weil sie den Elementen, wilden Tieren und der natürlichen Verwesung ausgesetzt gewesen waren. Weiße Knochen blitzten uns im hellen Sonnenlicht entgegen. Durch die Kleidungsstücke konnten viele sofort identifiziert werden, und wir hörten zu viele Schreie des Erkennens und der Reue.
    Als wäre all dies nicht genug, waren viele von uns so geschwächt, dass der Tod unvermeidlich war – nun, in diesem letzten Stadium, wo wir beinahe zu Hause waren. Auf dem Weg bergab starben hauptsächlich Frauen. Da wir auf unseren Lilienfüßen balancierten, lag unser Schwerpunkt oben. Wir wurden regelrecht in den Abgrund gezogen, der rechts von uns abfiel. Diesmal, bei Tageslicht, hörten wir nicht nur die Schreie, sondern sahen auch noch, wie die Frauen bei ihrem aussichtslosen
Kampf gegen die Luft mit den Armen ruderten. Einen Tag zuvor hätte ich mir um Schneerose Sorgen gemacht, doch sie setzte konzentriert einen Fuß vor den anderen.
    Der Metzger trug seine Mutter auf dem Rücken. Als Schneerose einmal ins Straucheln geriet, weil sie eine Mutter sah, die die Überreste eines Kindes einwickelte, das sie zu einer angemessenen Beerdigung nach Hause tragen wollte, blieb er stehen, setzte seine Mutter ab und nahm Schneerose am Ellbogen. »Bitte geh weiter«, bat er sie sanft. »Wir sind bald bei unserem Karren. Den restlichen Weg nach Jintian kannst du fahren.« Als sie den Blick nicht von der Mutter und ihrem Kind abwenden wollte, fügte er hinzu: »Im Frühjahr komme ich zurück und bringe seine Knochen nach Hause. Ich verspreche dir, dass er in unserer Nähe sein wird.«
    Schneerose richtete sich wieder auf und zwang sich widerwillig, um die Frau mit ihrem winzigen Bündel herumzugehen.
    Der Handkarren stand nicht mehr dort, wo wir ihn zurückgelassen hatten. Wie so viele andere Dinge, die vor drei Monaten abgestellt worden waren, war er entweder von den Rebellen oder der Großen Hunan-Armee mitgenommen worden. Doch als das Land flacher wurde, wollten wir nichts als nach Hause, und wir vergaßen die Schmerzen, das Blut, den Hunger. Jintian war unversehrt, soweit ich sehen konnte. Ich half der Mutter des Metzgers in das Haus und ging dann wieder nach draußen. Ich wollte heim. Ich war nun so weit gekommen, dass ich wusste, ich könnte auch noch die letzten paar li nach Tongkou laufen, doch der Metzger rannte los, um meinem Mann zu sagen, dass ich zurück sei und er mich abholen könne.
    Sobald er aufgebrochen war, packte mich Schneerose. »Komm«, sagte sie. »Wir haben nicht viel Zeit.« Sie zog mich ins Haus,

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