Seidenfächer
mich dann Tongkou zu – meinem Zuhause, meiner Familie, meinem Leben.
DIE SCHMÄHREDE
I m ganzen Landkreis machten sich nun die Leute daran, ihr Leben wieder aufzubauen. Die Überlebenden hatten unglaublich viel durchgemacht – zuerst mit der Epidemie, dann mit der Rebellion. Wir waren ausgelaugt und hatten viele Opfer zu beklagen, doch wir waren dankbar, dass wir überhaupt noch am Leben waren. Langsam nahmen wir wieder an Gewicht zu. Die Männer arbeiteten wieder auf den Feldern, und die Söhne studierten im Hauptraum, während sich die Frauen und Mädchen in ihre oberen Gemächer zurückzogen, um zu sticken und zu weben. Es ging voran mit uns – das Glück, das wir gehabt hatten, spornte uns an.
In der Vergangenheit hatte ich mir gelegentlich Gedanken über den äußeren Bereich der Männer gemacht. Jetzt schwor ich mir, mich niemals wieder dort hineinzuwagen. Mein Leben sollte im oberen Gemach stattfinden. Ich war glücklich damit, die Gesichter meiner Schwägerinnen zu sehen, und freute mich auf gemeinsame lange Nachmittage bei Nadelarbeit, Tee, Liedern und Geschichten. Doch alles verblasste im Vergleich zu der Freude, als ich die Kinder wiedersah. Drei Monate, das war in meinen und in ihren Augen eine Ewigkeit. Sie waren gewachsen und hatten sich verändert. Mein ältester Sohn war in der Zeit meiner Abwesenheit zwölf geworden. Während des Chaos war er auf dem Landsitz im Schutz der kaiserlichen Truppen in Sicherheit gewesen und hatte eifrig studiert. Er hatte die wichtigste Lektion gelernt: Alle Gelehrten, ganz egal, wo sie lebten oder welchen Dialekt sie sprachen, lasen die
gleichen Texte und legten die gleichen Prüfungen ab. Loyalität, Integrität und eine einzige Vision hatten überall im Reich Gültigkeit. Selbst in entlegenen Landkreisen wie unserem, weit entfernt von der Hauptstadt, halfen örtliche Beamte – die alle eine identische Ausbildung genossen hatten – den Menschen, das Verhältnis zwischen dem Kaiser und dem Volk zu verstehen. Wenn mein Sohn nicht von diesem Weg abwich, würde er eines Tages sicherlich die Prüfungen ablegen können.
Ich sah Schneerose in diesem Jahr häufiger als zu unserer Mädchenzeit. Unsere Männer versuchten nicht, uns daran zu hindern, obwohl in anderen Teilen des Landes noch der Aufstand wütete. Nach allem, was geschehen war, glaubte mein Mann mich in der Obhut des Metzgers sicher, während der Metzger seine Frau sogar dazu ermunterte, mich zu besuchen, denn sie kehrte immer mit Essen, Büchern und Käsch-Münzen als Geschenk heim. Bei den Besuchen teilten wir immer ein Bett miteinander. Unsere Männer bezogen andere Zimmer, damit wir Zeit füreinander hatten. Der Metzger wagte keinen Widerspruch und folgte in dieser Beziehung meinem Mann. Wie hätten sie auch irgendetwas davon verhindern sollen – unsere Besuche, unsere gemeinsamen Nächte, unser vertrautes Flüstern? Wir fürchteten weder Sonne noch Regen, noch Schnee. Gehorche, gehorche, gehorche, dann tu, was du willst .
Schneerose und ich trafen uns weiterhin in Puwei zu den Festen. Es tat ihr gut, Tante und Onkel zu sehen, deren lebenslange Güte innerhalb der Familie ihnen Liebe und Achtung eingebracht hatte. Tante war die geliebte »Großmutter« aller ihrer »Enkelkinder«. Gleichzeitig war Onkel auch in einer besseren Position als zu Lebzeiten meines Vaters. Älterer Bruder brauchte Onkels Rat auf den Feldern und bei der Buchhaltung, und Onkel fühlte sich geehrt, wenn er helfen konnte. Tante und Onkel fanden ein glückliches Ende, wie es sich niemand hätte vorstellen können.
Als Schneerose und ich in diesem Jahr zum Gupotempel fuhren, empfanden wir tiefe Dankbarkeit. Wir brachten Opfergaben dar und verrichteten unseren Kotau zum Dank dafür, dass wir den Winter überlebt hatten. Arm in Arm gingen wir dann weiter zum Tarostand. Wir setzten uns hin, planten die Zukunft unserer Töchter und diskutierten, welche Methode des Füßebindens perfekte goldene Lilien garantieren würde. Zu Hause schnitten wir Bandagen zurecht, kauften Heilkräuter, bestickten Miniaturschuhe für den Altar der Guanyin, rollten Klebreisbällchen als Geschenk für das Mädchen mit den kleinen Füßen und gaben unseren Töchtern Klöße aus roten Bohnen zu essen, damit ihre Füße weich wurden. Getrennt voneinander sprachen wir mit Frau Wang über den Bund unserer Töchter. Als Schneerose und ich uns dann wieder trafen, verglichen wir unsere Gespräche und lachten über die Kupplerin, die mit ihrem gepuderten
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