Seidenfächer
einen guten Blumenturm bauten, dann würde sie einen Ort haben, wo sie allein herumspazieren und sich beschäftigen konnte. War sie zufrieden, würden Schneerose und ich in Sicherheit sein.
Manche Leute – solche, die mehr Geld haben – gehen zu einem professionellen Blumenturmbauer, aber Schneerose und ich beschlossen, selbst einen zu machen. Wir stellten uns einen Turm mit vielen Ebenen vor – wie eine siebenstöckige Pagode. Vor den Eingang stellten wir ein Paar Foo-Hunde. Innen malten wir in unserer Geheimschrift Gedichte an die Wände. Wir bauten eine Ebene zum Tanzen, eine andere zum Schweben. Wir bauten ein Schlafzimmer, dessen Decke mit Mond und Sternen bemalt war. Auf einer anderen Ebene bauten wir ein Frauengemach, mit Gitterfenstern aus kompliziert ausgeschnittenen Papiermustern, so dass man in alle Richtungen schauen konnte. Wir bastelten einen Tisch, auf den wir Stückchen von unserem Lieblingsgarn legten, etwas Tusche, Papier und einen Pinsel, so dass Schöner Mond sticken oder Nushubriefe an ihre neuen Geisterfreundinnen schreiben konnte. Wir zwirbelten
farbiges Papier zu Dienstmädchen und Unterhalterinnen, die wir überall im Turm verteilten, so dass es in jedem Stockwerk Gesellschaft, Unterhaltung und Spaß gab. Wenn wir nicht an dem Blumenturm arbeiteten, komponierten wir eine Totenklage, die wir singen wollten, um meine Cousine zu beruhigen. Während der Blumenturm Schöner Mond für alle Ewigkeit Freude bereiten sollte, sollten unsere Worte ihr ein endgültiger Abschied von der Welt der Lebenden sein.
An dem Tag, an dem das Wetter endgültig umschlug, bekamen Schneerose und ich die Erlaubnis, zu Schöner Monds Grab zu gehen. Es war nicht weit zum Grabhügel, längst nicht so weit wie Schneeroses Weg zu den Feldern, um Baba und Onkel zu holen, als Schöner Mond gestorben war. Wir setzten uns ein paar Minuten an das Grab, dann entzündete Schneerose den Blumenturm. Wir sahen zu, wie er brannte, und stellten uns vor, wie er ins Jenseits transportiert wurde und Schöner Mond freudig hindurchschwebte. Dann zog ich das Blatt Papier hervor, auf das wir an Schöner Mond in unserer Geheimschrift geschrieben hatten, und wir begannen zu singen.
»Schöner Mond, wir hoffen, der Blumenturm bringt dir Frieden.
Wir hoffen, du vergisst uns, aber wir werden dich niemals vergessen.
Wir werden dich ehren. Wir werden dein Grab zum Frühlingsfest putzen.
Lass deine Gedanken nicht verwildern.
Wohne in deinem Blumenturm und sei glücklich.«
Schneerose und ich gingen nach Hause und nach oben ins Frauengemach. Wir setzten uns nebeneinander und schrieben abwechselnd die Totenklage auf die Falten unseres Seidenfächers. Als wir fertig waren, malte ich zu der Girlande oben einen
Sichelmond – so schlank und unaufdringlich, wie es Schöner Mond selbst gewesen war.
Der Blumenturm half dabei, Schneerose und mich zu schützen, und er besänftigte den ruhelosen Geist von Schöner Mond, aber Tante und Onkel waren untröstlich, da nützte auch der Turm nichts. All dies war vorherbestimmt. Wir waren mächtigen Elementen ausgeliefert und konnten nichts tun, als unser Schicksal anzunehmen. Das kann man durch yin und yang erklären: Es gibt Frauen und Männer, hell und dunkel, Kummer und Glück. Diese Dinge schaffen ein Gleichgewicht. Hat man einen Augenblick des höchsten Glücks, so wie Schneerose und ich es zu Beginn des Fests der kühlen Brise empfunden haben, wird es auf grausamste Weise durch den Tod von Schöner Mond wieder weggewischt. Hat man zwei glückliche Menschen wie Tante und Onkel, werden sie in einem einzigen Augenblick in zwei Menschen verwandelt, die völlig am Ende sind und nichts haben, wofür es sich zu leben lohnt. Wenn mein Vater starb, mussten sie sich darauf verlassen, dass Älterer Bruder für sie sorgte und sie nicht hinauswarf. Hat man eine Familie wie meine, die nicht sehr wohlhabend ist, dazu noch die Belastung durch zu viele Hochzeiten in einem Haushalt … All dies störte das Gleichgewicht des Universums, und deshalb richteten es die Götter wieder ein, indem sie ein braves Mädchen dahinrafften. Ohne Tod gibt es kein Leben. Das ist die wahre Bedeutung von yin und yang .
DIE BLUMENSäNFTE
Z wei Jahre nach dem Tod von Schöner Mond wurden meine Haare – die bereits hochgesteckt worden waren, als ich fünfzehn war – im Drachenstil gekämmt, wie es sich für eine junge Frau, die bald heiraten würde, geziemte. Meine Schwiegereltern schickten noch mehr Stoff, Käsch, damit ich
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