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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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Schwester, Cousine, kümmert euch um Mama und Baba. Wir Frauen können nur hoffen, dass unsere Eltern viele Jahre leben werden.
    Dann nämlich haben wir einen Ort, zu dem wir an den Festtagen zurückkehren können.
    In unserem Elternhaus haben wir immer Menschen, denen wir etwas bedeuten.
    Bitte seid gut zu unseren Eltern.
     
    Eure Tochter, Schwester und Cousine
    Ich las den Brief zu Ende und schloss die Augen. Ich dachte bei mir: so viele Tränen für Ältere Schwester, so viel Freude für mich. Ich war dankbar, dass wir dem Brauch folgten, erst bei unserem Ehemann einzuziehen, wenn die Geburt unseres ersten Kindes unmittelbar bevorstand. Ich hatte noch zwei Jahre bis zu meiner Hochzeit und danach vielleicht noch drei Jahre, bis ich auf Dauer zu meinen Schwiegereltern ziehen würde.
    Ein Geräusch, das sich anhörte wie ein Schluchzen, riss mich aus diesen Gedanken. Ich schlug die Augen auf und schaute Schneerose an. Verwirrt betrachtete sie etwas rechts von ihr. Ich folgte ihrem Blick zu Schöner Mond, die sich am Hals rieb und nach Luft schnappte.
    »Was ist denn los?«, fragte ich.
    Schöner Mond versuchte so angestrengt einzuatmen, dass sich ihre Brust hob und senkte – uuuu, uuuu, uuuu -, ich werde nie vergessen, wie sich das anhörte.
    Sie sah mich mit ihren schönen Augen an. Statt weiter an der Stelle zu reiben, griff sie sich nun seitlich an den Hals. Sie versuchte nicht aufzustehen. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen da und sah immer noch aus wie eine junge Dame, die an
einem heißen Nachmittag mit ihrer Nadelarbeit auf dem Schoß im Schatten sitzt, aber ich merkte genau, dass die Stelle an ihrem Hals unter ihrer Hand anschwoll.
    »Schneerose, hol Hilfe«, sagte ich rasch. »Such Baba, such Onkel. Schnell!«
    Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, dass sich Schneerose nach Kräften mühte, auf ihren winzigen Füßen zu rennen. Ihre Stimme – die nicht daran gewöhnt war, laut zu werden – klang unruhig und schrill. »Hilfe! Hilfe!«
    Ich kroch über die Decke zu Schöner Mond hinüber. Auf ihrer Stickarbeit sah ich eine Biene, die um ihr Leben kämpfte. Der Stachel musste meiner Cousine noch im Hals stecken. Ich nahm ihre andere Hand und hielt sie. Ihr Mund öffnete sich. Ihre Zunge wurde dicker, schwoll an.
    »Was kann ich denn tun?«, fragte ich sie. »Soll ich versuchen, den Stachel rauszuziehen?«
    Wir wussten beide, dass es dafür bereits zu spät war.
    »Möchtest du etwas Wasser?«, fragte ich.
    Schöner Mond konnte nicht antworten. Sie atmete mittlerweile nur noch durch die Nase, und jeder Atemzug fiel ihr schwerer als der vorangegangene.
    Irgendwo im Dorf hörte ich Schneerose. »Baba! Onkel! Älterer Bruder! Ist da jemand? Helft uns!«
    Dieselben Kinder, die uns in den letzten Tagen besucht hatten, versammelten sich nun um unsere Decke. Der Mund stand ihnen vor Staunen offen, während sie zusahen, wie Schöner Mond der Hals, die Zunge, die Augenlider und die Hände anschwollen. Ihr Gesicht, das immer blass wie der Mond gewesen war, von dem sie ihren Namen hatte, färbte sich rosa, rot, lila und schließlich blau. Sie sah aus wie ein Wesen aus einer Geistergeschichte. Ein paar von Puweis Witwen kamen herbei. Sie schüttelten mitleidig den Kopf.
    Der Blick von Schöner Mond begegnete meinem. Ihre Hand
war so dick, dass ihre Finger wie Würste in meiner Handfläche lagen, und die Haut war so glänzend und gespannt, dass sie zu platzen drohte. Ich barg die monströse Pranke in meiner Hand.
    »Schöner Mond, hör mir zu«, beschwor ich sie. »Dein Baba kommt gleich. Warte auf ihn. Er hat dich so lieb. Wir haben dich alle lieb, Schöner Mond. Hörst du mich?«
    Die alten Frauen begannen zu weinen. Die Kinder umklammerten einander. Das Leben im Dorf war hart. Wer von uns hatte den Tod noch nicht gesehen? Aber selten begegnete man in den letzten Momenten solcher Tapferkeit, solcher Ruhe, solch entschlossener Schönheit.
    »Du warst eine gute Cousine«, sagte ich. »Ich habe dich immer lieb gehabt. Ich will dich stets in Ehren halten.«
    Schöner Mond holte noch einmal Atem. Diesmal klang es wie ein quietschendes Scharnier. Es ging langsam. In ihren Körper konnte kaum mehr Luft gelangen.
    »Schöner Mond, Schöner Mond …«
    Der schreckliche Laut endete. Ihre Augen waren nur noch Schlitze in einem grässlich verzerrten Gesicht, aber sie sah mich völlig verständig an. Sie hatte jedes meiner Worte gehört. In den letzten Augenblicken ihres Lebens – als keine Luft mehr in ihren Körper hinein- und

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