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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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getrunken wie meine Söhne auch, sie hat ihre Tränen in meinen Schoß geweint, und sie hat mir Ehre gemacht, indem sie eine gute und talentierte Frau wurde, die Nushu fließend beherrschte. Onkels Perle war nun für immer verloren.
    Ich schaute Schöner Monds Gesicht an und dachte daran, wie nahe wir uns gewesen waren. Uns waren die Füße zur gleichen Zeit gebunden worden. Wir waren ins selbe Dorf versprochen worden. Unsere Leben waren unumstößlich miteinander verbunden gewesen, und nun waren wir für immer getrennt.
    Schneerose machte sich währenddessen nützlich. Sie kochte Tee, den niemand trank. Sie lief durchs Haus und suchte nach weißen Trauerkleidern, die sie für uns bereitlegte. Sie stellte sich an die Tür und begrüßte alle, die die Neuigkeit gehört hatten. Ehrenwerte Frau Wang kam in ihrer Sänfte an, und Schneerose ließ sie ein. Ich hätte gedacht, dass Frau Wang sich über das entgangene Vermittlungshonorar beklagen würde. Doch stattdessen bot sie ihre Hilfe an. Die Zukunft von Schöner Mond hatte in ihren Händen gelegen, und sie fühlte sich verpflichtet, sie auf dieser letzten Reise zu begleiten. Doch sie hob unwillkürlich die Hand zum Mund, als sie das verzerrte Gesicht von Schöner Mond und ihre entsetzlichen Monsterfinger sah. Und es war immer noch so heiß. Wir hatten keinen kühlen Ort, wo wir sie hinlegen konnten. Mit Schöner Mond würde jetzt alles recht schnell gehen.
    »Wie lange dauert es noch, bis ihre Mutter kommt?«, fragte Frau Wang.
    Wir wussten es nicht.
    »Schneerose, du hüllst bitte das Gesicht des Mädchens in Musselin, und dann ziehst du ihr die Kleider für die Ewigkeit
an. Mach das sofort. Keine Mutter sollte ihre Tochter so sehen.« Schneerose wollte gerade nach oben gehen, aber Ehrenwerte Frau Wang zog sie am Ärmel. »Ich fahre nach Tongkou und bringe dir deine Trauerkleider. Du verlässt dieses Haus nicht, bis ich es dir sage.« Sie ließ Schneerose wieder los, warf einen letzten Blick auf Schöner Mond und verschwand durch die Tür.
    Als Tante dann kam, waren Baba, Onkel, meine Brüder und ich schon in einfaches Sackleinen gekleidet. Schöner Mond war völlig in Musselin gehüllt und dann für ihre Reise ins Jenseits gekleidet worden. Viele Tränen flossen an diesem Tag im Haus, doch keine davon kam von Tante. Sie schwankte auf ihren Lilienfüßen herein und ging sofort zur Leiche ihrer Tochter. Sie strich die Kleider glatt, dann legte sie die Hand auf die Stelle, wo das Herz ihrer Tochter geschlagen hatte. So blieb sie Stunden stehen.
    Tante befolgte alle Regeln, die zu einer Bestattung gehörten. Sie ging auf Knien zur Beerdigung. Sie verbrannte Papiergeld und Kleider am Grab, damit Schöner Mond es im Jenseits benutzen konnte. Sie sammelte alles, was Schöner Mond in unserer Geheimschrift geschrieben hatte, und verbrannte auch das. Danach errichtete sie bei uns im Haus einen kleinen Altar und brachte jeden Tag ein Opfer dar. In unserer Gegenwart weinte sie nie, aber ich werde nie vergessen, welche Geräusche nachts durch unser Haus drangen, wenn Tante ins Bett ging. Sie stöhnte aus einem ganz, ganz tiefen Bereich ihrer Seele. Keiner von uns konnte schlafen. Keiner von uns war ihr ein Trost. Meine Brüder und ich bemühten uns sehr, so leise – so unsichtbar – wie möglich zu sein, denn wir wussten, unsere Stimmen und Gesichter waren nur bittere Erinnerungen an das, was sie verloren hatte. Nachdem die Männer morgens aufs Feld gegangen waren, zog sich Tante in ihr Zimmer zurück und weigerte sich herauszukommen. Sie lag auf der Seite, das Gesicht zur Wand, und sie lehnte jegliche Nahrung bis auf die Schale Reis, die
Mama ihr brachte, ab. Den ganzen Tag lag sie still, bis uns die Nacht einfing und das schaurige Stöhnen wieder begann.
    Jeder weiß, dass ein Teil des Geistes ins Jenseits hinabsteigt, während ein Teil bei der Familie bleibt, aber wir glauben, bei dem Geist einer jungen Frau, die vor der Ehe gestorben ist, verhält es sich anders. Sie kommt zurück und sucht sich andere unverheiratete Mädchen – nicht um ihnen Angst zu machen, sondern um sie mit ins Jenseits zu nehmen, damit sie Gesellschaft hat. Tantes entrücktes Stöhnen rief das Unglück von Schöner Mond jede Nacht wieder zurück und ließ Schneerose und mich wissen, dass wir in Gefahr waren.
    Schneerose hatte einen Plan. »Wir müssen einen Blumenturm bauen«, sagte sie eines Morgens. Ein Blumenturm war genau das Richtige, um den Geist von Schöner Mond zu besänftigen. Wenn wir ihr

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