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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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bei zu wenig Nahrung -, oder wir überleben die Menschen, die wir lieben. Kleine Jungen – die doch so wertvoll sind – können genauso leicht sterben. Ihr Körper hat noch keine Wurzeln geschlagen, und ihre Seele ist eine zu große Versuchung für Geister aus dem Jenseits. Als Männer laufen sie Gefahr, an infizierten Wunden, einer Lebensmittelvergiftung, durch einen Unfall auf dem Feld oder auf der Straße zu sterben, oder aber ihr Herz ist der Belastung als Familienvorstand nicht gewachsen. Deshalb gibt es so viele Witwen. Auf jeden Fall sind die ersten fünf Lebensjahre für Jungen wie für Mädchen nicht entscheidend.
    Ich machte mir nicht nur um Schneeroses Sohn Sorgen, sondern auch um das Baby in meinem Bauch. Es war nicht einfach, Angst zu haben, ohne dass mich jemand ermutigte oder tröstete. Als ich noch in meinem Elternhaus wohnte, war meine Mutter zu sehr damit beschäftigt, mir durch Traditionen und Gebräuche Grenzen zu setzen, als dass sie mir praktische Ratschläge gegeben hätte. Meine Tante, die mehrere ungeborene Kinder verloren hatte, ging mir möglichst ganz aus dem Weg, damit sich ihr Unglück nicht auf mich übertrug. Im Haus meines Mannes hatte ich gar niemanden. Meine Schwiegereltern und mein Mann sorgten sich natürlich um das Wohlergehen des Babys, aber es schien niemanden zu beunruhigen, dass ich sterben könnte, während ich den Erben zur Welt brachte.
    Schneeroses Brief begriff ich als ein gutes Omen. Wenn ihr die Geburt leicht gefallen war, dann würden sicher auch mein
Kind und ich das überleben. Es gab mir Kraft zu wissen, dass unsere Liebe zueinander nicht nachgelassen hatte, auch wenn wir beide ein neues Leben führten. Wenn überhaupt, dann war sie stärker geworden, seit wir unsere Reis-und-Salz-Tage angetreten hatten. Mit unseren Briefen konnten wir uns über unsere Qualen und Triumphe austauschen, doch wie bei allem anderen mussten wir auch dabei gewisse Regeln befolgen. Als verheiratete Frauen, die bei ihren Männern eingezogen waren, durften wir uns nicht mehr benehmen wie junge Mädchen. Wir schrieben traditionelle Briefe in landläufiger Ausführung und mit formalisierten Wendungen. Zum Teil mussten wir das, weil wir Fremde im Haus unserer Männer waren und viel zu tun hatten, die Lebensweise der neuen Familien kennen zu lernen. Zum Teil lag es daran, dass wir nicht wussten, wer unsere Briefe womöglich las.
    Unsere Worte mussten wir vorsichtig wählen. Wir durften nichts zu Negatives über unsere neuen Verhältnisse schreiben. Das war gar nicht so einfach, denn gerade die üblichen Klagen – dass wir ganz arm dran waren, machtlos, uns abarbeiteten, Heimweh hatten und traurig waren – machten traditionell den Brief einer verheirateten Frau aus. Wir sollten offen über unsere Gefühle sprechen, ohne undankbar, nutzlos oder respektlos zu wirken. Eine Schwiegertochter, die ihre wirklichen Lebensumstände öffentlich macht, bringt Schande über das Haus ihrer Eltern und ihres Mannes. Deshalb habe ich mit meiner Geschichte ja gewartet, bis sie alle tot waren.
    Zu Beginn hatte ich Glück, weil ich nichts Schlechtes zu berichten hatte. Bei meiner Verlobung erfuhr ich, dass der Onkel meines Mannes ein jinshi war, ein kaiserlicher Beamter auf der höchsten Stufe. Nun begriff ich das Sprichwort, das ich als Mädchen immer gehört hatte: »Wenn jemand ein Staatsbeamter wird, kommen alle Hunde und Katzen seiner Familie in den Himmel.« Onkel Lu wohnte in der Hauptstadt und überließ
die Verwaltung seines Besitzes Meister Lu, meinem Schwiegervater. Der war an den meisten Tagen vor Sonnenaufgang draußen, lief die Besitztümer ab, sprach mit den Bauern über die Ernte, überwachte Bewässerungsprojekte und traf sich in Tongkou mit anderen Dorfältesten. Er musste sich um die ganze Buchhaltung kümmern, und die gesamte Verantwortung für das, was auf dem Landbesitz passierte, lastete auf seinen Schultern. Onkel Lu gab das Geld aus, ohne sich darum zu kümmern, wie es in seinen Säckel kam. Ihm ging es so gut, dass seine beiden jüngsten Brüder eigene Häuser in der Nähe hatten – wenn auch keine so vornehmen wie dieses. Sie kamen oft mit ihren Familien zum Essen, während ihre Frauen beinahe täglich unser oberes Gemach besuchten. Mit anderen Worten, jeder aus Onkel Lus Familie – die Hunde, die Katzen, bis hin zu den fünf großfüßigen Dienstmädchen, die sich ein Zimmer neben der Küche teilten – profitierte von seiner Stellung.
    Onkel Lu war der oberste Herr der Familie,

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