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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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Offensichtlich nahm sie dieses Versäumnis hin, denn sie schickte mir eine bestickte Babyjacke und eine Mütze, die mit kleinen Anhängern geschmückt war.
    Als meine Schwiegermutter die Geschenke sah, sagte sie: »Eine Mutter muss immer darauf achten, wen sie in ihr Leben einlässt. Die Mutter deines Sohnes kann nicht mit der Frau eines Metzgers verkehren. Respektvolle Frauen ziehen respektvolle Söhne auf, und wir erwarten von dir, dass du unseren Wünschen nachkommst.«
    Bei diesen Worten begriff ich, dass meine Schwiegereltern nicht nur nicht wollten, dass Schneerose zu der Feier kam, ich sollte sie gar nicht mehr treffen. Ich war entsetzt, ich war außer mir, und da ich gerade das Baby bekommen hatte, weinte ich unablässig. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich würde in dieser Sache gegen meine Schwiegereltern angehen müssen, ohne zu begreifen, wie gefährlich das sein würde.
    In der Zwischenzeit schrieben Schneerose und ich uns beinahe täglich. Ich hatte gedacht, ich wüsste alles über Nushu und dass Männer nie mit dieser Schrift in Kontakt kommen oder sie sehen sollten, doch jetzt, wo ich im Haushalt der Lus lebte, wo alle Männer die Männerschrift beherrschten, erkannte ich, dass unsere geheime Frauenschrift gar nicht so geheim war. Dann dämmerte mir, dass die Männer im ganzen Landkreis von Nushu wissen mussten. Wie sollte es auch anders sein? Sie trugen die Schriftzeichen auf ihren bestickten Schuhen. Sie sahen uns unsere Botschaften in Stoffe weben. Sie hörten uns unsere Lieder singen und wussten, dass unsere Dritter-Tag-Hochzeitsbücher präsentiert wurden. Die Männer betrachteten unsere Schrift einfach als minderwertig.
    Es heißt ja, dass Männer ein Herz aus Eisen haben, während
das der Frauen aus Wasser besteht. Das spiegelt sich auch in der Männerschrift und in der Frauenschrift wider. Die Männerschrift hat mehr als fünfzigtausend Zeichen – jedes ist einzigartig und hat tiefe Bedeutungen und Nuancen. Unsere Frauenschrift hat vielleicht sechshundert Zeichen, die wir – wie Babys – phonetisch benutzen, um ungefähr zehntausend Wörter daraus zu bilden. Es dauert ein Leben lang, die Männerschrift zu erlernen und zu verstehen. Die Frauenschrift lernen wir schon als Mädchen, und die Bedeutung erschließen wir aus dem Zusammenhang. Männer schreiben über den äußeren Bereich – über Literatur, Finanzen, die Ernte; Frauen schreiben über den inneren Bereich – über Kinder, Hausarbeit, Gefühle. Die Männer im Haushalt der Lu waren stolz darauf, wie gut ihre Frauen Nushu beherrschten und wie geschickt sie stickten, obwohl diese Dinge für das Überleben so notwendig waren wie ein Schweinefurz.
    Da die Männer unsere Schrift für unwichtig hielten, achteten sie gar nicht auf die Briefe, die ich schrieb oder erhielt. Mit meiner Schwiegermutter war das eine andere Geschichte. Ich musste ihrer Wachsamkeit irgendwie entgehen. Im Moment verlangte sie nicht zu wissen, wem ich schrieb, und im Lauf der nächsten Wochen entwickelten Schneerose und ich ein perfektes Übermittlungssystem. Wir benutzten Yonggang, die zwischen den Dörfern hin- und hergeschickt wurde, um unsere Briefe, die bestickten Taschentücher und gewebten Stoffe zu überbringen. Ich setzte mich gerne ans Gitterfenster und beobachtete sie. Häufig dachte ich mir: Ich könnte doch selbst gehen . So weit war es nicht entfernt, und meine Füße waren kräftig genug dafür, doch auch hier gab es Regeln. Selbst wenn eine Frau eine große Entfernung zu Fuß zurücklegen konnte, sollte sie nicht allein auf der Straße gesehen werden. Entführungen durch irgendwelche Gauner stellten eine Gefahr dar, und noch mehr konnte es dem Ruf schaden, wenn eine Frau nicht in der
angemessenen Begleitung war – ihres Mannes, ihrer Söhne, ihrer Heiratsvermittlerin oder ihrer Träger. Ich hätte zu Schneerose laufen können, doch ich hätte es niemals riskiert.
    Liebe Lilie,
     
    du willst mehr über meine neue Familie wissen.
Ich habe großes Glück.
In meinem Elternhaus gab es keine Fröhlichkeit.
Meine Mutter und ich mussten den ganzen Tag, die ganze
Nacht leise sein.
Die Konkubinen, meine Brüder, meine Schwestern und die
Dienstmädchen waren weg.
In meinem Elternhaus herrschte Leere.
Hier habe ich meine Schwiegermutter, meinen Schwiegervater
, meinen Mann und seine jüngeren Schwestern.
Im Haus meines Mannes gibt es keine Konkubinen oder
Dienstmädchen.
Nur ich erfülle diese Rollen.
Die harte Arbeit macht mir nichts aus.
Alles, was

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