Seidenfächer
Gupotempel besuchen und um einen Sohn beten, und danach wollte ich nach Tongkou. Meine Schwiegereltern waren mit dieser Pilgerfahrt einverstanden – sie würden alles in ihrer Macht Stehende tun, um
einen männlichen Erben zu bekommen -, aber unter der Bedingung, dass ich die Nacht in einem Gasthaus verbrachte und mich nicht überanstrengte. Die Familie meines Mannes schickte eine Sänfte, die mich abholen sollte. Ich stand vor der Schwelle des Hauses meiner Familie und ließ mich von allen beweinen und umarmen, dann stieg ich in die Sänfte und wurde weggetragen, aber ich wusste ja, ich würde in den kommenden Jahren immer wieder zurückkehren, zum Fest der kühlen Brise, zum Geisterfest, zum Vogelfest und zum Fest der Kostproben sowie zu allen Feiern, die es in meiner Familie gab. Es war kein endgültiger Abschied, sondern nur ein Lebewohl für eine gewisse Zeit, wie auch bei Älterer Schwester.
Zu dieser Zeit lebte Schneerose, deren Schwangerschaft weiter fortgeschritten war als meine, bereits in Jintian, also holte ich sie ab. Ihr Bauch war so dick, dass ich es gar nicht fassen konnte, wie ihre neue Familie ihr überhaupt erlaubte zu reisen, auch wenn sie dabei um einen Sohn beten wollte. Wir gaben ein lustiges Bild ab, wie wir im Schmutz standen, versuchten, uns mit unseren dicken Bäuchen zu umarmen, und die ganze Zeit lachten. Sie war schöner als in all den Jahren, seit ich sie kannte, und sie schien wahres Glück auszustrahlen.
Schneerose redete während der gesamten Fahrt zum Tempel, sie beschrieb, wie sich ihr Körper anfühlte, wie sehr sie das Baby in ihrem Bauch liebte und wie nett alle zu ihr waren, seit sie in das Haus ihres Mannes gezogen war. Sie legte die Hand um ein Stückchen weißer Jade, das sie um den Hals hängen hatte, damit das Baby die klare, bleiche Farbe des Steins bekäme statt der rötlichen Gesichtsfarbe ihres Mannes. Auch ich trug einen weißen Jadeanhänger, doch anders als Schneerose hoffte ich, der Stein würde mein Kind nicht vor der Gesichtsfarbe meines Mannes schützen, sondern vor meiner eigenen, die, obwohl ich die Tage stets im Inneren zubrachte, von Natur aus dunkler war als das cremige Weiß meiner laotong .
In den vergangenen Jahren hatten wir immer nur kurz den Tempel besucht, uns verneigt und mit der Stirn den Boden berührt, während wir zur Göttin beteten. Nun marschierten wir stolz hinein, streckten unsere runden Babybäuche vor und begutachteten die anderen werdenden Mütter, um zu sehen, wer dicker war, bei wem das Baby oben saß, bei wem es unten saß. Doch wir achteten darauf, dass unsere Gedanken und Worte stets ehrbar und wohlmeinend waren, damit sich diese Eigenschaften auch auf unsere Söhne übertrugen.
Wir bahnten uns einen Weg zum Altar, wo vielleicht hundert Paar Babyschuhe aufgereiht standen. Wir hatten beide, als Opfergabe für die Göttin, ein Gedicht auf einen Fächer geschrieben. In meinem ging es um die Segnungen durch einen Sohn und wie er die Lu-Linie weiterführen und seine Ahnen in Ehren halten würde. Es endete mit: Göttin, deine Güte ehrt uns. Zu dir kommen viele, die um einen Sohn bitten, aber ich hoffe, du erhörst mein Flehen. Bitte gewähre mir meinen Wunsch. Als ich das geschrieben hatte, fand ich es völlig angemessen, aber nun stellte ich mir vor, was Schneerose wohl mit ihrem Fächer gemacht hatte. Sicher enthielt er lauter hübsche Worte und kunstvolle Verzierungen. Ich betete, dass sich die Göttin durch Schneeroses Opfergabe nicht zu sehr beeinflussen ließ. »Bitte, erhöre mich, bitte, erhöre mich, bitte, erhöre mich«, sang ich leise zu der Göttin.
Schneerose und ich legten beide mit der rechten Hand unseren Fächer vor den Altar, während wir uns gleichzeitig mit der linken ein Paar Babyschuhe vom Altar schnappten und im Ärmel verschwinden ließen. Dann verließen wir rasch den Tempel, in der Hoffnung, nicht erwischt zu werden. Im Landkreis Yongming stehlen alle Frauen, die ein gesundes Kind bekommen wollen, einfach ein Paar Schuhe vom Altar der Göttin – sie tun jedoch so, als würden sie es heimlich machen. Warum? Wie du weißt, klingt das Wort für Schuh in unserem Dialekt genauso
wie das Wort für Kind . Wenn unsere Babys dann auf die Welt gekommen sind, stellen wir wieder ein Paar Schuhe an den Altar zurück – was den Vorrat an Schuhen erklärt, von dem wir gestohlen haben – und bringen zum Dank Opfergaben dar.
Wir traten wieder hinaus ins Freie und in den schönen Tag, dann gingen wir zum Garnladen.
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