Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
Vom Netzwerk:
doch ich sicherte mir meinen Platz, weil ich die erste Schwiegertochter war und indem ich meinem Mann seinen ersten Sohn schenkte. Sobald mein Baby geboren war und die Hebamme es mir in die Arme legte, war ich so selig, dass ich die Schmerzen der Geburt vergaß, und so erleichtert, dass ich mir gar keine Sorgen machte, was ihm alles noch Schlimmes passieren konnte. Alle im Haus waren glücklich und erwiesen mir auf vielfältige Weise ihre Dankbarkeit. Meine Schwiegermutter kochte mir eine spezielle Suppe aus Branntwein, Ingwer und Erdnüssen, damit mir die Milch einschoss und meine Gebärmutter schrumpfte. Mein Schwiegervater ließ mir über seine Konkubinen blaue Brokatseide zukommen, damit ich seinem Enkel daraus eine Jacke nähte. Mein Mann setzte sich zu mir und unterhielt sich mit mir.
    Aus diesen Gründen habe ich den jungen Frauen, die in die Familie Lu eingeheiratet haben, und den anderen, die ich später über meinen Nushu-Unterricht erreichte, geraten, möglichst
schnell einen kleinen Jungen zur Welt zu bringen. Söhne sind der Grundstock für das Leben einer Frau. Sie verleihen einer Frau ihre Identität und dazu Würde, Schutz und wirtschaftlichen Wert. Sie schaffen die Verbindung zwischen ihrem Ehemann und dessen Vorfahren. Ohne seine Frau kann ein Mann das nicht erreichen. Nur seine Frau kann ihm die Fortführung seiner Familie garantieren, was wiederum die oberste Pflicht jedes Sohnes ist. So erweist er seinen Eltern den höchsten Respekt, während Söhne für eine Frau die Krönung darstellen. Ich hatte alles geschafft und war glückselig.
    Liebe Schneerose,
mein Sohn liegt hier neben mir.
Die unreine Zeit nach der Geburt ist noch nicht vorüber.
Mein Mann kommt mich morgens besuchen.
Er macht ein glückliches Gesicht.
Mein Sohn sieht mich mit fragenden Augen an.
Ich kann es kaum erwarten, dich zur Ein-Monats-Feier zu
sehen.
Bitte verwende in unserem Fächer deine schönsten Worte
für meinen Sohn.
Erzähl mir von deiner neuen Familie.
Ich sehe meinen Mann nicht sehr oft. Und du?
Ich schaue aus dem Gitterfenster zu dir hinüber.
Du singst stets in meinem Herzen.
Ich denke jeden Tag an dich.
    Lilie
    Warum diese Zeit Reis-und-Salz-Tage genannt wird? Sie bestehen aus den üblichen Hausarbeiten – sticken, weben, nähen, flicken, Schuhe machen, kochen, abspülen, putzen, Wäsche
waschen, Feuer schüren – und nachts bereit zum Liebesspiel mit einem Mann sein, den man immer noch nicht gut kennt. Es gibt auch Tage, die angefüllt sind mit den Ängsten und der Plackerei einer jungen Mutter, die ihr erstes Kind hat. Warum schreit es? Hat es Hunger? Bekommt es genügend Milch? Schläft es denn nie? Schläft es zu viel? Und was ist mit Fieber, Ausschlag, Insektenstichen, zu großer Hitze, zu großer Kälte, Koliken, gar nicht zu reden von den Krankheiten, die durch den Landkreis ziehen und jedes Jahr Babys mitnehmen, trotz der Bemühungen der Kräuterärzte, der Opfergaben an den Familienaltären und der Tränen der Mütter? Ganz abgesehen von dem Baby, das an deiner Brust saugt, musst du dir auch noch auf einer tieferen Ebene über die wahre Pflicht der Frauen Gedanken machen – nämlich noch mehr Söhne zu bekommen, um die nächste Generation und die Generationen danach zu sichern. Aber während der ersten Lebenswochen meines Sohnes bereitete mir etwas anderes Sorge, das nichts mit meinen Aufgaben als Schwiegertochter, Ehefrau oder Mutter zu tun hatte.
    Als ich meine Schwiegermutter bat, Schneerose zur Ein-Monats-Feier meines Sohnes einzuladen, sagte sie Nein. Das gilt bei uns im Landkreis als schwerer Affront. Ich war zerknirscht und ratlos, aber sie ließ sich nicht umstimmen. Der Tag sollte zu einem der wichtigsten und festlichsten meines Lebens werden, und ich erlebte ihn ohne Schneerose an meiner Seite. Die Familie Lu besuchte den Ahnentempel, weil der Name meines Sohnes zu allen anderen Familienmitgliedern an die Wand kommen sollte. Rote Eier – das Symbol für das Leben, zu diesem feierlichen Anlass rot gefärbt – wurden an die Gäste und die Verwandten verschenkt. Es gab ein großartiges Festessen, mit Vogelnestsuppe, eingesalzenen Vögeln, die sechs Monate lang eingelegt worden waren, und mit Wein gefütterte Ente, die mit Ingwer, Knoblauch und frischen roten und grünen Paprikaschoten
geschmort worden war. Dabei fehlte mir Schneerose sehr, und ich beschrieb ihr das Fest später in allen Einzelheiten, ohne daran zu denken, dass sie das nur an diesen fürchterlichen Affront erinnern würde.

Weitere Kostenlose Bücher