Seidenfessel - Maeda, K: Seidenfessel
richtigen Punkt anzufangen“, murmelte Kyo mehr zu sich selbst. „Vielleicht sollte ich dir vorher sagen, dass die japanische Mafia nur bedingt etwas mit der russischen oder sizilianischen Variante zu tun hat. Sie hat eine sehr lange Tradition in Japan, und jeder Japaner weiß von ihr. Fast jeder kennt jemanden, der schon einmal mit ihr zu tun hatte; aber man spricht nicht über sie.“
„Meist kümmern sie sich auch nicht um einen“, warf Tomo ein. „Außer, man mischt sich in ihre Geschäfte.“
Kyo nickte und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: „Sie arbeiten mit Pachinko-Hallen, Prostitution und Glücksspiel. Aber die größeren Yakuza-Gruppierungen wollen seriöser werden. Es gibt ganze Konzerne, die zwar von Yakuza-Bossen gegründet wurden, aber mittlerweile als ehrbare Geschäftshäuser fungieren. Shin hat wahrscheinlich für eine der Gruppen hier im Kabukichō gearbeitet, jedenfalls sah ich ihn häufig nach der Arbeit mit einigen von ihren Leuten herumstehen und reden.“
„Ist das nicht gefährlich, so genau zu wissen, dass die Mafia vor der eigenen Tür herumsteht?“, fragte Isabelle erstaunt.
Tomo schüttelte den Kopf. „Wir Japaner haben eine sehr zweischneidige Art, mit der Yakuza umzugehen. Zum einen drehen wir Filme über sie und halten ihre Mitglieder für die letzten, wenn auch zwielichtigen Helden unserer Zeit, zum anderen haben wir Angst vor ihr und verbieten Yakuza-Mitgliedern den Besuch öffentlicher Bäder, wo man ihre typischen Tätowierungen sieht. Es gibt sogar eine Initiative verschiedener Geschäfte, die Yakuza nicht in ihren Läden haben wollen.“
„Sie sind trotz allem gefährlich“, erwiderte Kyo und sah Isabelle eindringlich an. „Wenn ich Recht habe, und Shin sich mit der Yakuza eingelassen hat, fürchte ich, dass es vielleicht schon zu spät ist“, sagte er ernst.
K APITEL 4
Das Gespräch mit Kyo beschäftigte Isabelle noch am nächsten Morgen, als sie das Hotel verließ. Sie hatte eine unruhige Nacht verbracht, in der sich Erinnerungsfetzen an Shin mit Träumen von dem Fremden aus dem Zug vermischten. Als sie erwachte, wanderten ihre Gedanken aber zurück zu der Nacht im Club. Wenn Shin tatsächlich mit der japanischen Mafia in Berührung gekommen war, waren die Chancen, ihn gesund wiederzufinden, sehr gering. Sie wollte es dennoch versuchen. Um schneller an Informationen zu Shins Verschwinden zu kommen, beschloss sie, sich als Reporterin irgendeines deutschen Magazins auszugeben. Im Kabukichō musste ihn einfach jemand gesehen haben. Vielleicht wusste man dort sogar, wo er sich aufhielt!
Während des gemeinsamen Frühstücks am nächsten Morgen vertiefte sich Tomo noch näher in die Informationen der letzten Nacht, nachdem Isabelle ihr von ihrem Plan, sich als Journalistin auszugeben und nach Shin zu suchen, erzählt hatte. „Wenn du die Leute auf die Yakuza ansprichst, wird dir kaum jemand was erzählen. Angsthasen! Dabei begegnen dir die Yakuza-Clans auf Schritt und Tritt. Heutzutage verdienen sie ihr Geld nicht mehr mit Prostitution und Glücksspiel – die großen Clans sind Banker, Medienmogule und Konzerne!“
Isabelle hatte in ihrem Kaffee gerührt und Tomos Monolog zugehört. „Warum geht die Polizei dann nicht dagegen vor? Sind diese Clans schon so mächtig?“
Tomo zuckte mit den Schultern und zwirbelte nachdenklich eine Strähne ihres langen Haars. „Insgeheim bewundert jeder dieser Schlipsträger einen waschechten Yakuza“, war die lapidare Antwort. „Sie tun nicht nur Schlechtes – offiziell ist die Kriminalitätsrate nicht sehr hoch in Japan. Das ist der Yakuza zu verdanken.“
„Weil sie die Leute so einschüchtert, dass sich keiner traut, Anklage zu erheben?“, vermutete Isabelle. Tomo schüttelte den Kopf.
„Nein. Hauptsächlich deshalb, weil Streit untereinander durch die Yakuza geregelt wird. Sagen wir ...“, ihr grün lackierter Fingernagel tippte gegen die Tischplatte, als würde sie etwas nachrechnen, „du hast einen Nachbarn, der dich terrorisiert. Aber du kannst nichts gegen ihn tun, und hier in Japan willst du auch niemanden mit Autorität belästigen. In so einem Fall wendest du dich an den Clan in deinem Viertel. Das System funktioniert. Selbst Vergewaltigungen kommen in den Gebieten der großen Clans kaum noch vor.“
Isabelle schüttelte nur fassungslos den Kopf. Tomo aber lächelte nur. „Finde es selbst heraus – dir wird kaum jemand etwas erzählen.“
Tagsüber machte Isabelle sich selbst auf, um nach Shin zu
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