Seidenfessel - Maeda, K: Seidenfessel
da die Nacht anbrach, langsam erwachte. Die Schilder der Diskotheken und Bars leuchteten auf, und aus den Metrostationen strömten feierhungrige Partygänger und einsame Männer und Frauen.
Isabelle fuhr sich mit einem Stofftaschentuch über Stirn und Nacken. Es wurde sofort nass. Die Luftfeuchtigkeit, der Lärm des Kabukichō und die einlullende Wärme der Nacht wirkten wie ein schwerer Wein. Isabelle atmete tief ein und ließ dieses Gefühl einen Augenblick auf sich wirken.
„Erfolgreich gewesen?“, fragte eine bekannte Stimme hinter ihr, und Isabelle drehte sich um. Dort stand Kyo und lächelte. Trotz der Hitze sah er aus, als wäre es nicht wärmer als an einem lauen Frühlingstag. Er trug ein Hemd aus schwarzer Seide, das bis zu seinem Brustbein offen stand und glatte, makellose Haut freigab. Eine Designersonnenbrille hatte er sich locker ins Haar geschoben und die Hände in den Hosentaschen vergraben.
„Nein“, erwiderte Isabelle und sah auf das Foto von Shin, das sie in der Hand hielt. Nach der letzten Bar hatte sie vergessen, es wieder in die Tasche zu stecken.
Er zuckte leicht mit den Schultern. „Man spricht nicht gerne über die Yakuza“, sagte er. „Und auch nicht über die Personen, die damit zusammenhängen.“
Isabelle fühlte eine große Müdigkeit in sich aufsteigen. Kyos Worte holten die Bedenken, die sie schon seit Shins Verschwinden mit sich herumtrug, wieder hervor. „Denkst du ... er lebt noch?“, fragte sie leise.
Kyo las die Sorge auf ihrem Gesicht. Er hob die Hand und strich sanft mit dem Fingerrücken über ihre Wange. Die Berührung ließ sie aufsehen. Sie tat gut, rührte aber ein tiefes Verlangen in Isabelle. „Shin ist ein zäher Hund“, sagte er, „mach dir keine Sorgen.“
„Ich versuche es“, antwortete sie und zuckte zusammen, als plötzlich lauter Donner grollte. Kyo runzelte die Stirn und sah auf. „Gleich fängt der Regen wieder an – gehen wir.“
Instinktiv sah Isabelle zum Himmel hinauf. Die dunklen Wolken über ihnen wirkten wie schwere Ballons voller Wasser, bereit, jeden Augenblick zu zerplatzen. Isabelle folgte Kyo, der bereits an den Bordstein getreten war und ein Taxi rief. Doch bevor eines hielt, bewahrheitete sich Kyos Vorhersage. Ein Regenschauer ging auf sie hernieder, und Isabelle war nass bis auf die Knochen, ehe sie auch nur daran denken konnte, sich irgendwo unterzustellen. Zu ihrem Glück hielt in diesem Moment eines der schwarzen Autos mit dem Taxi-Zeichen. Der Regen prasselte während der gesamten Fahrt dumpf auf das Autodach. Und als Isabelle vom Rücksitz aus durch die Scheibe blickte, sah sie kaum etwas. Nun versuchte sie, ihre nassen Haare zu bändigen. Die roten Strähnen lockten sich und waren kaum noch eine Frisur zu nennen.
Wie der Fahrer seinen Weg durch das wässrige Chaos fand, war ihr ein Rätsel. „In welchem Hotel wohnst du?“, fragte Kyo, der neben ihr saß. Isabelle nannte ihm den Namen des Hotels, und er schüttelte den Kopf. „Mit dem Taxi ist es bis dorthin zu teuer – und so nass wie wir sind, erkältest du dich, wenn du mit der Bahn dorthin fährst. Du kommst mit in mein Hotel.“
„Hast du da etwa eine Kundin?“, fragte sie schmunzelnd und lachte, als Kyo nur zwinkerte. Seine Frisur war ebenfalls ruiniert, aber ihn schien das nicht zu kümmern. „Ich wohne dort“, klärte er Isabelle auf. „Zumindest zeitweise – es ist ein Appartement im Sakura View. Es gehört einem Freund, der verreist ist, und ich hüte es während dieser Zeit für ihn.“
„Allein?“
Um Kyos Mundwinkel erschien ein Schmunzeln. „Er ist mein Boss. Es macht ihm nichts aus, wenn ich mich dort mit Kundinnen treffe.“
Das Sakura View erwies sich als riesiger Gebäudekomplex inmitten des Tokioter Lebens. Die Konstruktion bestand aus Glas und Stahl und schraubte sich hoch in den noch immer wolkenverhangenen Himmel. Ein modernes Hotel, das offensichtlich dazu gebaut worden war, auch westlichen Gästen den größtmöglichen Standard zu bieten.
Der Taxifahrer fuhr sie zur Eingangstür, an der sie von einem Pagen in rotem Jackett empfangen wurden.
Er spannte einen schwarzen Schirm auf, unter dem sie zu zweit Platz fanden, und geleitete sie durch eine große Glastür in die Lobby. Die Inneneinrichtung hielt das Versprechen, das die Fassade des Sakura View gegeben hatte. Der dunkle Teppich, auf dem Isabelle lief, federte unter ihren Halbschuhen; er zeigte ein Muster von Kirschblüten, die ineinanderflossen und sich zu einer
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