Seidenstadtblues - Niederrhein Krimi
wurde Karin einen Deut wacher. Es ziepte unangenehm auf der Kopfhaut. Dieser Geruch, eine Mischung aus Milch, Honig und voller Windel, stieg ihr in die Nase. Lächelnd fand sie in die Welt zurück und blickte unvermittelt in das schelmische Gesicht ihrer kleinen Tochter. Lange Wimpern, ein verklebter, lächelnder Mund, keine zehn Zentimeter von ihr entfernt. Wann hatte sie diese Morgenstimmung zum letzten Mal erlebt?
»Guten Morgen, meine Süße. Na, hat der Papa dich geschickt, damit ich aufstehe?«
Maarten, ihr Lebensgefährte, linste durch den Türspalt, überließ ihr den Moment und fasste seine schulterlangen Haare zu einem Zopf zusammen. Er wollte sich leise zurückziehen, was seiner aufmerksamen kleinen Hannah nicht entging. Eilig wuselte sie sich aus dem großen Bett.
»Papaaaa!«
Karin hatte mit Erstaunen darauf reagiert, dass Hannahs erstes Wort keineswegs »Mama« gewesen war. Mama war eben unzuverlässig anwesend, seit sie wieder arbeitete und Papa den Hausmann gab. Es hatte an ihren mütterlichen Gefühlen gezwackt, dass Töchterchens zweites Wort »Mo« hieß, womit eindeutig ihr großer Bruder Moritz gemeint war. Irgendwann nach einem frustrierenden Arbeitstag hatte sie mit ihrem Kollegen Burmeester auf dem Kornmarkt in Wesel mehrere Bier über den Durst getrunken. Der damalige Fall gewann an fiesen, filigranen Details, proportional dazu erlahmte das Privatleben der beiden. Sie fürchtete den Verlust sozialer Kontakte, und Burmeester schreckte vor seinem Kühlschrank zurück, dessen Inhalt ihm wohl entgegengelaufen käme, wenn er den Mut aufbrächte, ihn zu öffnen. Schon ziemlich beschickert fiel ihnen die kleine Hannah ein und löste einen moralischen Absturz aus, der ihnen den Rest gab. Mit dem zehnten Absacker stießen sie an, Burmeester formulierte mit letzter Aufmerksamkeit einen Trinkspruch.
»Auf die Mutter und den Patenonkel. Beide wird das Kind nie kennenlernen, weil sie Räuber und Gendarm spielen. Prost!«
Karin konnte sich ziemlich genau an den verkaterten Tag danach erinnern.
Durch die offene Tür drang verlockender Kaffeeduft. Maarten wusste, was sie aus den Federn locken konnte. Sie warf beiläufig einen Blick auf den Wecker. Schon fast zehn, stellte sie erschrocken fest, setzte sich auf, wollte schnell ins Bad und fasste sich schließlich an die Stirn. Klar, sie konnte schlafen bis zum Abend, wenn sie wollte, und das noch die nächsten sieben Tage lang. Ihre Vorgesetzte, Frau Doktor van den Berg, hatte sie nach Hause geschickt, wollte die Hauptkommissarin erst in der übernächsten Woche wieder an ihrem Arbeitsplatz sehen. »Dies ist eine Dienstanweisung, sparen Sie sich jeden Einwand. Mit Volldampf sind Sie zurück in den Dienst gegangen, und jetzt schöpfen Sie mal wieder Kraft.«
Sie hatte frei. Karin reckte sich und schlurfte immer dem verlockenden Duft nach die Treppe hinunter in die Küche. Hannah saß auf ihrem Tripptrapp und hielt ein Bilderbuch in der Hand, während der Papa von der Tageszeitung hochschaute.
»Na, hast du ausgeschlafen?«
»Ein wenig, ich fühle mich zerschlagen und ausgepowert.«
»Hab ich schon in der Zeitung gelesen. Hauptkommissarin Krafft und das Kommissariat 1 stehen kreisweit mit ihrer beispielhaften Aufklärungsquote an vorderster Stelle.«
Er reichte ihr die aufgeschlagene Seite mit dem Artikel, sie überflog ihn kurz.
»Ein offizielles Lob, was will man mehr. Wenn die Reporter wüssten, wie viel Arbeit dahintersteckt, das hier hört sich so verklärt einfach an.«
»Dann sei so gut und erklär es mir.«
In den letzten Wochen hatten sie kaum miteinander geredet. Entweder kam sie erst spät heim und fiel dann in einen unruhigen, kurzen Schlaf, oder sie hatte im Büro übernachtet und sich morgens knapp telefonisch gemeldet. Maarten konnte nur ahnen, was das Kommissariat geleistet hatte. Karin gab ihm einen dicken Kuss auf die Wange.
»Ich werde es dir erzählen. Jeder Fall in der letzten Zeit hatte so viele Abgründe, die reichten bis kurz vor die Pforte zur Hölle. Ich habe Geschichten gehört, die sich keine kranke Phantasie ausdenken kann.«
Karin schlürfte an ihrem Kaffee. »Weißt du, was das Schlimmste war?«
Maarten schüttelte den Kopf.
»Zu erkennen, dass es immer weiter geht. Verstehst du, es gibt keine Grenzen mehr im menschlichen Umgang miteinander. Angestachelt von Darstellungen im Internet und anderen Medien werden verschlagene, schüchterne potenzielle Täter zu wahren Foltermeistern, furchtbar.«
Karin nahm einen
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