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Seidenstadtblues - Niederrhein Krimi

Seidenstadtblues - Niederrhein Krimi

Titel: Seidenstadtblues - Niederrhein Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Renk
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Gräberfeldes.
    Die Vertuschungsmaschine lief perfekt, bis Offizier Unterhagen die repräsentative Eingangstür zur Stasizentrale an der Erfurter Andreasstraße durchschritt, sich auswies und umgehend in das Kasino zum Empfang ging, bei dem er für ehrenvolle Verdienste ausgezeichnet wurde. Seine Fähigkeit, schwierige Missionen durchzuführen, wurde besonders erwähnt. Es war verständlich, dass er viele Glückwünsche entgegennehmen und mehrfach anstoßen musste. Als Offizier Unterhagen bemerkte, dass der Alkohol seine Zunge gelöst hatte und er in den wichtigtuerischen Flüsterton der Kennerschaft abdriftete, war es schon zu spät. Da hatte er schon erzählt, dass »Genosse Staatsanwalt Kuhrke« vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Erfurt einen Mann, einen Kollegen »wegen Verbrechens gegen Artikel 6 der Verfassung der DDR « angeklagt hatte. Der Vorwurf »Spionage, Staatsverbrechen, Fluchthilfe« sei so allgemein gehalten gewesen, dass das gewünschte Urteil – beifälliges, gedrücktes Lachen aus der kleinen Zuhörerschaft pflichtete bei – am Ende herauskommen würde.
    Offizier Unterhagen spürte mit der antrainierten Vorsichtigkeit des Staatssicherheitsbeamten, dass er einhalten musste, doch die spontane Aufmerksamkeit der tuschelnden Kollegen spornte ihn an. Der Verurteilte, der fünfundvierzig Jahre alt gewesen sei, habe gezittert, gefleht, geweint, als ihm der Anstaltsleiter bekannt gemacht habe, dass der Vorsitzende des Staatsrats, Walter Ulbricht, sein Gnadengesuch abgelehnt habe, und die Vollstreckung des Todesurteils für den nächsten Morgen verkündete.
    »Als er keine Tränen mehr hatte, saß er verbiestert da. Widerspenstig hat er unsere Frage nach letzten Wünschen abgewehrt. Das würde alles rauskommen, was gegen ihn konstruiert worden sei, hat er geschrien. Bis er zurück in die Zelle gebracht wurde zu seiner letzten Nacht«, sagte der Offizier in gewichtigem Tonfall. »Er döste dann irgendwann ein, zwischendurch schreckte er hoch, flüsterte und schrie einen Namen, offenbar eine Frau, an die er dachte, Li, Lilli oder so ähnlich. Da war etwas, was ihn bis zuletzt nicht losgelassen hat.«
    Offizier Unterhagen hielt ein, als sei ihm plötzlich bewusst, ein Geheimnis ausgesprochen zu haben, das ihn selbst gefährdete und das er nie hatte verraten wollen. Er bremste seinen Rededrang, und kein Wort über die wahren Hintergründe dieses unseligen Todesfalls kam über seine Lippen. Nie, nie sollten die Verstrickungen aufgedeckt werden können.
    »Na ja, dann gab es passende Aktenvermerke, der kam in die Urne, und jetzt wächst wortwörtlich Gras über die Sache«, gab er dröhnend zum Besten, und die Runde reagierte mir schallendem Gelächter auf dies Ablenkungsmanöver.
    Offizier Unterhagen konnte nicht ahnen, dass das ordnungsgemäß gewachsene Gras Jahrzehnte später nach der Wende von 1989 verdorrte und die Grasnarbe über zwanzig Jahre danach aufbrach.

EINS
    4. Mai 2010
    Hauptkommissarin Karin Krafft blinzelte verschlafen in die Morgensonne und rieb sich die Nase. Bleierne Müdigkeit hielt ihren Körper zwischen dem warmen Bettzeug, ein leichter Windhauch bewegte die Gardine vor dem geöffneten Fenster und zeichnete zarte Muster an die gegenüberliegende Wand. Sie war in der Nacht ins Bett gefallen und augenblicklich in einen komatösen Schlaf gesunken. Seit Wochen zum ersten Mal. Die letzte Zeit hatte viel Kraft und Zeit gekostet, von jedem im Kommissariat 1 in Wesel schier Unmögliches gefordert, auch von ihr.
    Etwas strich über ihren Arm, den sie flugs wieder unter die Decke zog, ein paar Minuten noch, ein Viertelstündchen. Es hatte Tage gegeben, an denen sie ein Nickerchen am Schreibtisch gehalten hatte, den Kopf auf die verschränkten Arme gebettet, wie ihre Großmutter es am Küchentisch getan hatte. Weitermachen, Lösungen finden, nicht glauben können oder wollen, worauf es hinauslief. Manchmal hatte Karin Krafft sich aus einer fremden Perspektive betrachtet, die Kommissarin mit den gerauften, ungewaschenen Haaren, die seit zwei Tagen dieselbe Bluse trug, dieselbe Jeans, die sich die Zähne provisorisch auf dem Frauenklo mit den Fingern putzte und kritisch im Spiegel die dunklen Ränder unter den Augen anstarrte. Die hagere Frau, die nur noch von Kaffee und belegten Brötchen lebte, die ihre Kollegen antrieb, aufmunterte, bis zur Erschöpfung forderte, sich das Schwinden der eigenen Kräfte nicht eingestehen wollte.
    Jetzt zog es am Haar, erst vorsichtig, fast unmerklich, dann

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