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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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»Mehr!«
    Und wieder schob sich die Hand durch den Schutt; Staub und Schmutz und Blut klebten an ihr, wir reinigten sie, bevor wir neues Wasser in die Handfläche gossen. Die Hand zog sich zurück, kam Minuten später wieder zum Vorschein, jedesmal aufgeschürfter, mit Hautfetzen, die sich von ihren Fingern lösten. Ich schluchzte, leise und tränenlos, so daß jeder Schluchzer nur ein halb ersticktes Zucken war.
    »Naomi! Du tust dir ja weh.«
    Die Antwort klang erstickt, kaum hörbar.
    »Hier sind… Eisendrähte! Wann kommen sie endlich… mit dem Kran?«
    »Bald…«, rief Seiji. »Mama, du mußt durchhalten! Bitte!«
    »Wasser!« stöhnte sie.
    Überall waren jetzt knisternde, prasselnde Geräusche zu hö-
    ren. Schlagartig war die Temperatur gestiegen, ich schwitzte in meinem Parka. Der heiße Wind wehte Funken und kleine schwärzliche Fetzen heran, Holzsplitter oder Mattenteilchen, die langsam um uns herum zu Boden rieselten. Kunio richtete sich auf, spähte unruhig nach allen Seiten. Auf einmal wußte ich, warum ich Naomis Hand so deutlich sah. Es war nicht der Schein der Taschenlampe, der sie beleuchtete, sondern das Flackern des Feuers. Aus der Ferne schallte die Stimme aus dem Lautsprecher, gab unentwegt ihre Warnung durch. Die Flammen krochen und hüpften durch die Trümmer, schwerer Rauch schwamm über den Boden, die Luft war zum Ersticken heiß.
    »Ich sehe etwas… Licht?« hörte ich Naomi sagen. »Es wird Tag, nicht war?«
    »Bald!« Mein Herz stürmte in meiner Brust. Ich hielt Naomis Hand, die zart und blutüberströmt aus dem Schutt ragte, streichelte und küßte sie. Ihre Hand klammerte sich an meiner fest.
    »Kein Tageslicht?« hörte ich sie sagen.
    Ein Schrei brach aus Seijis Kehle. Er lag auf Händen und Knien, weinte und schrie.
    »Mama! Das Feuer kommt!«
    Kunio preßte die Zähne zusammen. Sein Ohr war geschult, die Geräusche des Feuers wahrzunehmen und zu deuten.
    »Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagte er dumpf.
    In der Ferne heulten Sirenen. Die Stimme aus dem Lautsprecher wurde scharf und dringend.
    »Wir bitten inständig alle Personen, das Viertel unverzüglich zu verlassen. Explosionsgefahr. Ich wiederhole…«
    Dann wieder Stille. Das helle Donnern des Feuers schwoll an, übertönte Seijis verzweifeltes Schluchzen. Die Sekunden dehnten sich. Absurde Gebilde aus Schutt bewegten sich, Gegenstände krümmten sich in den Flammen: Mattenfetzen oder Kleider, Material, das sich in der Hitze zusammenzog und dehnte, ein Vorgang, der Muskelbewegungen gleichkam. Dann, plötzlich, durch das Brausen und Knistern, erklang Naomis Stimme; sie drang aus der Erde, leicht und kindlich, fast ein Flüstern nur. Wir hielten den Atem an; zuerst konnten wir die Worte nicht verstehen, doch als Seiji plötzlich schwieg, hörten wir sie deutlicher. Naomi sang vor sich hin, und sie sang auf Französisch.
    »Mon amour, mon cher amour, ma déchirure, je te porte en moi comme un oiseau blessé. Le temps d’apprendre à vivre, il est déjà trop tard, je pleure dans la nuit oh mon amour perdu…«
    Kurze Stille; Seiji hatte Naomis Hand gepackt. Sie fuhr ihm mit den blutenden Fingern über die Wangen, die Lider, streichelte seine Lippen, den Rand seiner Zähne entlang. Dann erklang erneut ihre Stimme, lauter jetzt, doch ruhig und klar:
    »Ruth, Kunio… Bringt ihn weg von hier! Mein Vater hat ihn nicht gerufen.«
    Und dann, ein paar Atemzüge später:
    »Geh, Seiji… ich verzeihe dir!«
    Wieder Stille; dann schrie Seiji wild und schluchzend auf; Naomis Hand war plötzlich nicht mehr da, verschwunden, als ob sie die Erde verschluckt hätte. Er warf sich der Länge nach auf den Boden, krallte sich in dem Schutt fest, schrie, schrie in die Erde hinein. Das Brausen des Feuers schwoll zu Donner an; die Flammen schlugen uns wie eine Flutwelle entgegen. Auf halber Entfernung zum Hang explodierte eine Gasleitung, in der sich noch etwas Gas befand. Der Feuerball fegte Trümmer empor. Eine Mauer, die noch stand, stürzte in einem Stück nieder; Holz splitterte, eine tiefe Erschütterung bewegte den Boden. Im blutroten Flammenlicht packte Kunio den wild um sich schlagenden Jungen, stellte ihn mit einem Ruck auf die Beine. Ich raffte unsere Rucksäcke, trug beide, während Kunio Seiji mit sich zerrte. Wir rannten die Straße hinunter, stolperten im Schutt, husteten uns fast die Lungen aus dem Leib. Flecken tanzten vor unseren Augen, wirbelten in roten Kreisen. Durch den Rauchnebel sahen wir Scheinwerfer, Männer vom

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