Seidentanz
wieder. Sie ist eingeklemmt.«
»Waren die Rettungsleute nicht da?« Kunios Stimme rasselte.
»Doch, aber sie brauchen einen Kran.«
»Man kann doch die Hauswand aufbrechen!«
Seiji würgte die Worte heraus.
»Das geht nicht. Sonst kippt der Pfeiler auf Mama.«
Aus irgendeinem Grund hatte die Betonmasse das Mauer-werk nicht aufgerissen, sondern stemmte sich dagegen in labi-lem Gleichgewicht, solange die Wand den Druck zu tragen vermochte. Kunio und ich wechselten einen verzweifelten Blick. Die Leute von der Rettungsmannschaft hatten die Situation richtig eingeschätzt: Ohne Kran war hier nichts zu machen.
»Ein paarmal hat die Erde gebebt«, sagte Seiji. »Die Wand hat sich gesenkt. Aber sie hält noch.«
Er deutete auf einen wirren Haufen zerquetschter Holzhäuser.
»Da sind noch Leute begraben. Ein paar hat man herausge-holt, aber nicht alle. Vor ein paar Stunden hat ein Mann ganz furchtbar geschrien. Jetzt ist er still.«
Seiji starrte vor sich hin; auf der rechten Gesichtshälfte zogen sich, von roten Flecken umrahmt, zwei tiefe Schrammen hin. Unten an seinem Kinn klebte Blut.
»Wann bringen sie den Kran?« fragte Kunio.
»Morgen früh.« Seiji wischte sich mit dem Ärmel über die Nase.
»Erst morgen?« stammelte ich.
»Ja.« Seijis Stimme festigte sich allmählich. »Hier können sie nicht her. Sie müssen zuerst die Trümmer wegräumen. Sie haben gesagt, sie würden die ganze Nacht arbeiten. Inzwischen soll ich mit meiner Mama sprechen, damit sie den Mut nicht verliert. Sie sagen, morgen früh kommt der Kran… «
In der Ferne heulten Sirenen. Das gespenstische Getöse überspülte uns wieder und immer wieder, bis es endlich zitternd verhallte. Seiji fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.
»Haben Sie… eine Cola?«
»Nein, nur Wasser.«
»Auch gut.«
Kunio zerrte eine Flasche aus seinem Rucksack, drehte den Stöpsel und reichte sie dem Jungen. Seiji trank in durstigen Zügen. Ich näherte mich behutsam dem Betonklotz.
»Naomi? Kannst du mich hören?«
»Vielleicht schläft sie«, sagte Seiji. »Vor ein paar Stunden war sie wach. Sie sagte, sie sei müde. Es ist besser, wenn sie schläft, ne?«
Kunio besah sich den Boden, ein undeutlicher Haufen Betonbrocken, gebrochene Holzsparren, Scherben, Schmutz, Fuß-
bodenplatten. Er hob eine Eisenstange und wog sie in seiner Hand.
»Vielleicht könnte man graben…«
Ein Beben lief über Seijis blutbeschmiertes Kinn.
»Die Rettungsleute haben es schon versucht. Sie sagen, es geht nicht, sonst bewegt sich der Klotz. «
Ich erstickte einen Aufschrei. Kunio wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Wie kann sie bloß überleben?«
»Sie sagt, da ist ein Loch. Sie kriegt Luft. Sie hat eine Zeitlang gekratzt, um das Loch größer zu machen.«
»Wo liegt sie denn?«
Krampfhaftes Schluchzen schüttelte Seijis Brust.
»Sie liegt nicht. Sie sitzt. Sie kann sich überhaupt nicht bewegen und auch nicht den Kopf heben. Sie sagt, am Anfang haben ihr die Beine sehr weh getan. Jetzt nicht mehr.«
Plötzlich sprudelten die Worte aus ihm hervor. Es war frühmorgens geschehen, gerade als es hell wurde. Seiji wachte auf, weil Keikos Hund unaufhaltsam heulte, winselte und an der Haustür kratzte. Die Großmutter hörte schlecht, und Naomi stand nie auf, wenn Mari nach draußen mußte. Verschlafen zog Seiji seine Socken an. Da fing die Erde an zu beben. Das Donnern kam von allen Seiten, umgab ihn, wurde mächtiger und mächtiger, bis sein Trommelfell zu platzen schien. Der Boden sackte unter Seijis Füßen weg. Er spürte einen heftigen Luftzug, ein berstendes Krachen. Das Haus wurde hochgehoben und stürzte über ihm zusammen. Als Seiji erwachte, lag er auf dem Bauch und versuchte sich zu bewegen. Dort, wo das Dach gewesen war, klaffte ein großes Loch. Kaskaden von Feuerkugeln sprühten in der Luft, sie kamen von beschädigten Starkstromleitungen. Seijis Körper war voller Schrammen und blauer Flecken, sein linker Arm tat ihm entsetzlich weh, schien aber nicht gebrochen. Er kroch zum Fenster, das halb offen stand, sah, daß das Zimmer sich nicht mehr im ersten Stock, sondern auf gleicher Höhe mit dem Garten befand. Er kletterte über das Fensterbrett und stand draußen. Er hörte Schreie und Hilferufe, das Rumpeln und Rollen der sich verschiebenden Trümmer, das Knallen des aufplatzenden Asphalts.
»Zuerst sah ich nur Staub«, sagte Seiji. »Dann wurde die Sicht klarer. Die Autobahn war in der Mitte geplatzt. Die Pfeiler standen nicht
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