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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Mensch bei Verstand bleiben. Immer wieder, solange ich lebte, würde ich die Erinnerung bewahren. Vielleicht durfte ich diese Dinge nicht allzu genau nehmen. Es war besser, vernünftig zu sein. Nicht gesehen zu haben, was ich zu sehen glaubte. Wenn ich überall nur bemaltes Zeug sah, eine Szene-rie, dann schaffte ich es vielleicht. Ich holte tief Luft. So war es besser, und es war entsetzlich genug. Die Betonpfeiler, in mehrere Stücke zerplatzt, hatten die Häuser am Berghang zermalmt.
    Nichts war mehr übrig als eingedrückte Balken, Mörtel, zerfetzte Matten und Schutthaufen. Zersplitterte Möbel, Bettmatratzen, Computer, Kochgeschirr, Eisschränke, ganze Hausein-richtungen waren in ein unentwirrbares Durcheinander gepreßt.
    Ich streifte meinen Rucksack ab, stellte ihn neben mich, rieb mir die Schultern mit kreisenden Bewegungen.
    »Das Haus hat hier gestanden«, murmelte Kunio.
    Ich nickte.
    »Ja, unter den Brückenpfeilern.«
    Hinter der Autobahn war Feuer ausgebrochen. Es war zuerst nur ein rosafarbener Schimmer, der über der Kammlinie halb-wegs sichtbar wurde. Dann strahlte das Licht heller. Weißer Rauch zog empor. Der Wind blies stärker. Durch Lautsprecher wurde eine Warnung durchgegeben. Die Gasleitungen waren geplatzt. Die Leute sollen sich nicht in den Trümmern aufhalten. Ein junges Ehepaar lief keuchend vorbei, der Mann trug zwei kleine Kinder, die junge Frau schleppte eine Tasche mit ihren Habseligkeiten. Unterhalb der Straße versperrten Schuttmassen den Weg, ein Gewirr aus Erde, Geröll, zermalmten Betonmassen, umgeworfenen Autos. Wassertropfen sickerten aus geplatzten Rohren. Scherben und Glassplitter funkelten blutrot. Wieder ertönte die Warnung aus dem Lautsprecher.
    »Brandgefahr«, sagte Kunio. »Wir sollten lieber gehen.« Wir beschlossen, in den Erste-Hilfe-Stationen nach Naomi zu fragen. Ächzend bückte ich mich nach meinem Rucksack. Kunio half mir, ihn über die Arme zu schieben. Bis dahin hatten Wirrnis und Aufregung unser Gefühl abgestumpft. Jetzt merkten wir, wie müde wir waren. Unsere Glieder waren bleischwer, Genick und Schultern schmerzten, wir hatten kaum noch Kraft in den Oberschenkeln. Wir drehten dem Hang den Rücken zu, starrten in entgegengesetzter Richtung, auf andere Trümmerhaufen, auf eingeknickte Starkstromleitungen. Ein Schritt…
    noch einer. Und blieben stehen. Unsere Ohren erfaßten ein Geräusch, ganz in der Nähe: ein leises, verzweifeltes Schluchzen. Es war eine seltsame gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit, ein von Angst geschärfter sechster Sinn, der unsere Augen von den Scheinwerfern und den Bränden ablenkte und sie auf die nahen Trümmerhaufen richtete. »Ist da jemand?« rief Kunio.
    Keine Antwort, nur dieses verzweifelte Schluchzen. Ich machte ein paar Schritte durch den Schutt. In kurzer Entfernung lag ein Haus auf der Seite, zur Hälfte eingedrückt von einer Betonmasse; ein Teil des Brückenpfeilers hatte sich über den Hang gewälzt, eine Anzahl Häuser niedergerissen und zermalmt. Hier, an diesem Haus, war die Betonmasse zum Stok-ken gekommen; sie lehnte schräg an der Wand, ein gigantischer Klotz, im Halbrund geschliffen, von verbogenen Stahlbändern durchzogen. Unmöglich und deshalb unwirklich wirkte diese Säule, gegen die eingeknickte Hauswand gepreßt, die sie me-terhoch überragte. Neben der Betonmasse kauerte ein Kind, die Arme auf die Knie gelegt, und weinte. Wir verständigten uns mit einem Blick. Vorsichtig stiegen wir über Fliesen, Kabel, herabgestürzte Dachbalken.
    »Komm«, sagte Kunio, »du kannst hier nicht bleiben.« Die kleine Gestalt bewegte sich, hob den Kopf. Mein Körper wurde von einer Erregung geschüttelt, die ich wie einen Schmerz empfand, im Mund, hinter den Ohren, auf der Kopfhaut. Es war kein Kind, sondern ein Halbwüchsiger. Er trug einen Schlafanzug und war in eine der gelben Decken gewickelt, welche die Rettungsmannschaften verteilten. Rotgefärbte Strähnen, weiß von Staub, klebten an seinem aufgedunsenen Gesicht.
    » Seiji!«
    Wir waren schon bei ihm, knieten nieder. Er schluchzte mit offenem Mund.
    »Sie ist… sie sind irgendwo da unten.«
    »Naomi?« keuchte ich.
    »Ja, und Großmutter auch. Aber Großmutter ist tot.«
    »Bist du sicher?« Die Frage kam von Kunio.
    »Naomi sagt, ihr Kopf ist ganz eingedrückt. Sie kann es mit der Hand fühlen.«
    »Naomi ist unverletzt?«
    »Ja… nein… ich… ich weiß es nicht.« Seiji flüsterte tränenerstickt. »Manchmal ist sie stundenlang still. Dann höre ich sie

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