Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sein Anteil

Sein Anteil

Titel: Sein Anteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Wuchold
Vom Netzwerk:
dem Spiel. Sie schießen einen Ball hin und her, dem der Hund aufgeregt folgt, bellend hinterher springt.
    Mit weiten, leichten Schritten, seinen Schirm spielerisch in den Händen haltend, geht Willem weiter. Ist nicht alles geschehen, nur damit er sich Anne-Marie nähern kann? Er weiß, dass gleich der Augenblick kommt, auf den er die ganzen Wochen und Monate gewartet hat, auf den er hin gelebt hat.
    Dann sieht er Anne-Marie links auf einer Bank, die direkt gegenüber einem Zaun steht, der den Rasen vom Holland Walk trennt. Sie sitzt da, wie sie damals auf der Bank gesessen hat, als er sie das erste Mal sah und noch nichts von ihr wusste, nicht einmal ihren Namen. Wieder sitzt sie kerzengerade da, den Rücken durchgedrückt. Ihre Hände ruhen auf den Knien. Doch sie ist nicht mehr die Sphinx, schon lange nicht mehr. Denn jetzt weiß er alles über sie. Sie bräuchte nichts zu sagen, weil er alles schon kennt, ihre ganze Geschichte. Er könnte einfach weitergehen. Sie würde ihn nicht aufhalten. Aber dann wäre alles umsonst gewesen.
    Willem geht direkt auf ihre Bank zu. Sie trägt schwarz wie in seinen Träumen, einen schwarzen Rollkragenpullover und schwarze enge Hosen. Ihr dickes blondes Haar fällt ihr offen über die Schultern, weht weich im Wind.
    »Entschuldigen Sie, bitte. Darf ich mich setzen?«, spricht Willem sie auf Französisch an.
    Warum spricht er französisch? Er könnte sich auf die Zunge beißen.
    »Bitte, ich habe nichts dagegen«, antwortet sie mit ihrer hellen, aber festen Stimme, ebenfalls auf Französisch.
    In dem Augenblick, als Willem Platz nimmt, glaubt er, dass er sein ganzes Leben nur gelebt hat, um jetzt hier auf dieser Bank zu sein, dass alles auf diesen Augenblick hinausgelaufen ist, dass der Lauf der Dinge ihn hierhin getragen hat, ganz ohne sein Zutun. Willem lehnt sich zurück, wagt es, ab und zu einen vorsichtigen Blick auf Anne-Marie zu werfen. Verlegen umfassen seine Hände den Schirm. Anne-Marie verfolgt aufmerksam das Spiel der Kinder. Ihre Augen wandern bei jeder Bewegung ihrer Tochter mit.
    Dann fragt sie Willem plötzlich, auf Englisch: »Stört es Sie, wenn ich rauche?«
    »Nein, ganz und gar nicht.«
    Sie holt aus ihrer Handtasche, die links von ihr auf der Bank liegt, eine Packung Zigaretten hervor, zündet sich eine Zigarette an.
    »Möchten Sie vielleicht auch eine?«
    »Danke, sehr gerne.«
    Sie reicht ihm die Packung, ohne ihn richtig anzusehen. Sie hält ihm ihr Feuerzeug hin.
    »Danke«, sagt Willem wieder, wiegt das Feuerzeug kurz in seiner Hand, bevor er es zurückgibt. »Ein schönes Stück. Ein Dupont?«
    »Ja, es hat meinem Mann gehört«, sagt sie wie nebenbei, ohne jede Trauer. Und als wollte sie eine Frage beantworten, sagt sie noch: »Mein Mann ist tot.«
    »Das tut mir Leid, entschuldigen Sie.«
    »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Sie konnten es ja nicht wissen.« Dann spricht sie weiter, ganz ruhig, beinahe mechanisch, ohne jedes Gefühl. »Ja, mein Mann ist tot. Seit zwei oder drei Monaten. Ich weiß es nicht genau.«
    »Das tut mir Leid«, wiederholt sich Willem.
    Anne-Marie sagt, als wolle sie ihn beruhigen: »Es ist schon gut. Alles ist vorbei.«
    Eine Weile sitzen sie schweigend da. Aber es herrscht keine peinliche Stille zwischen ihnen, eher eine stille Vertrautheit. Wolken verdunkeln plötzlich die Sonne, und einzelne Tropfen kündigen einen Schauer an.
    »Ich glaube, ich muss gehen«, sagt Anne-Marie mit einem Blick auf ihre zierliche Uhr.
    »Darf ich Sie irgendwo hinbringen?« Willem öffnet seinen Schirm. »Ja, danke, sehr gerne. Ich wohne gleich hier.« Beinahe hätte Willem geantwortet: »Ich weiß.« Und Anne-Marie sucht Schutz unter seinem Schirm, hakt sich bei ihm ein, als ob alles ganz selbstverständlich sei, während Patricia mit ihrem Hund spielend vor ihnen herläuft.

Weitere Kostenlose Bücher