Sein letzter Burgunder
Redensart abwandelte.
»Aber am Sonntagabend bin ich zurück. Wann fliegst du nach Deutschland? Du kommst doch vorher hier vorbei?«
Es war nicht die Bitte in ihrer Stimme, die Henry seine Reisepläne nach Baden-Baden und zum Kaiserstuhl umstoßen ließ, es war auch der Wunsch, sie zu sehen. Eine Wochenendbeziehung war kompliziert genug. Und wenn ein Wochenende ausfiel, weil er gerade in Südspanien unterwegs war, sahen sie sich zwei Wochen nur über Skype. Damit war es für Henry klar, dass er zuerst bei ihr in Logroño vorbeifuhr und dann von Bilbao nach Frankfurt fliegen würde.
Sie sprachen noch eine Weile über ihre Kellerei und Sebastiáns Gesundheitszustand. Sebastián war nur fünf Jahre älter als Henry und damit mehr ein älterer Bruder als ein»Schwiegervater«, wie Henry ihn manchmal scherzhaft nannte. Isabella war zwanzig Jahre jünger als Henry. Und seit sie in der Firma mitarbeitete, ein paar Anteile besaß (weniger als ihr krimineller Bruder) und mit Henry zusammen war, hatte sich das Verhältnis zu ihrem Vater in eine kollegiale Richtung entwickelt.
Zuletzt wagte keiner von beiden, das Gespräch zu beenden, auf den Knopf zu drücken oder den Hörer aufzulegen, denn in der Stille danach spürten sie das Fehlen des anderen besonders. Die Leere ließ sich greifen. War diese Einsamkeit ihrer beider Freiheit geschuldet, ihrer Individualität, oder war es Angst vor der Nähe und die Furcht, sich darin zu verlieren?
Henry steckte das Mobiltelefon in die Tasche seines Sakkos und hob den Kopf. Hatte er während des Telefonats auf die Büsche vor dem Geländer der Terrasse des »Paradors« gestarrt so sah er jetzt das nächtlich flimmernde Granada unter sich, dahinter einzelne Lichter in der sich öffnenden andalusischen Ebene und den allerletzten Schimmer der untergegangenen Sonne über den Wolken, die genauso gut ein Gebirgszug sein konnten. Die gewaltige Sierra Nevada stand dunkel hinter ihm. Darüber glitzerten die ersten Sterne. Henry erhob sich aus dem Korbstuhl, reckte sich und trat ans Geländer. Er schaute nach rechts hinüber zum Generalife. Weich und erhaben leuchteten der Torre de Ismail und der Mirador, versteckt dahinter lag der Patio de la Acequia, wo sich einst die Kalifen von Córdoba und heute er von der Hitze des Tages erholt hatten.
»Du weinst wie ein Weib um das, das du als Mann nicht verteidigen konntest«, soll die Mutter des maurischen Königs Boabdil bei der Flucht vor den spanischen Truppen aus der Stadt zu ihrem Sohn gesagt haben. So jedenfalls hatte es ihm Isabella erzählt, und wie Boabdils Mutter über ihren Sohn dachte sie über ihren Vater und ihre Familienehre. Nach fünf Jahren in Spanien verstand Henry allmählich,was mit Ehre gemeint war und wie sehr sie missbraucht werden konnte.
Aber der Duft der Rosen aus dem Patio de la Acequia verdrängte düstere Gedanken, das feine Plätschern der Springbrunnen dort drang an sein Ohr sowie das Gefühl eines kühlenden Luftstroms auf der Haut. Anders als die je nach Tageslicht oder von Scheinwerfern in Ocker, Gelb oder Beige getauchten Backsteinmauern und Türme der Alhambra waren die Bauten dieser wundervollen Gartenanlage weiß gestrichen, daneben still die Schatten riesiger Zypressen. Er dachte an das eilig fließende Wasser in den Handläufen der Geländer dort drüben und lächelte.
Es war schrecklich. Je länger Henry den Anblick genoss, desto mehr fehlte ihm Isabella. Lange vor ihrer Zeit war er hier gewesen, da hatten japanische Kameras diese Motive noch nicht entdeckt, da hatte niemand gewagt, eine leere McDonald’s-Packung im Löwenhof fallen zu lassen. Dann waren sie beide auf ihrer ersten gemeinsamen Reise hier gewesen, und Henry hatte zum ersten Mal nach einem zu eilig gelebten Leben überhaupt die wesentlichen Dinge der Welt mit einer Frau geteilt. Er wandte sich ab, wagte nicht einmal, in die Sterne zu sehen, dann hätte ihm Isabella noch mehr gefehlt. Er holte sich ein Glas kühlen Albariño von der Bar und setzte sich wieder. Die Ruhe, die ihn jetzt umgab, würde er in den nächsten Tagen nicht mehr finden, wenn die Journalisten eintrafen, mit denen er reisen würde. Für ihn war die Tour ein Heimspiel, die Kollegen hingegen bewegten sich im Ausland, und er war vor drei Jahren beim spanischen Wettbewerb um die Nariz de Oro, die Nase aus Gold, Sieger geworden. Er hatte in jenem Jahr am besten die Rebsorten, Jahrgänge und Herkunft aus den Weinen herausgeschnüffelt. Manchen focht es an, dass ein Ausländer das
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