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Seine Exzellenz Eugène Rougon

Seine Exzellenz Eugène Rougon

Titel: Seine Exzellenz Eugène Rougon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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verstohlen
lüftete sie einen Zipfel der Hülle und betastete das vergoldete
Holz, den roten Samt.
    Herr La Rouquette durchsuchte jetzt den rechten Flügel des
Palastes, die endlosen Gänge, die den Büros und Kommissionen
vorbehaltenen Räume. Er kehrte durch den Saal der vier Säulen
zurück, wo die jungen Abgeordneten vor den Statuen von Brutus,
Solon und Lykurgus träumen, durchschritt den Wartesaal, durcheilte
die Rundgalerie, eine Art niedriger Krypta, kahl wie eine Kirche,
bei Tage und bei Nacht durch Gas erleuchtet. Außer Atem, die
wenigen Abgeordneten, die er auf seiner Treibjagd zusammengelesen,
mit sich schleppend, öffnete er breit eine goldgestirnte Tür von
Mahagoniholz. Herr von Combelot mit seinen weißen Händen und seinem
vornehm gekämmten Barte folgte ihm. Herr de la Villardiere, der
sich seiner Besucher entledigt hatte, kam hinter ihnen. Alle
stiegen hastig hinan und stürzten in den Sitzungssaal, wo die
Abgeordneten in ihren Bänken aufrecht standen und mit
ausgestreckten Armen einen Redner bedrohten, der ruhig auf der
Tribüne stand, während der ganze Saal brüllte:
    »Zur Ordnung! Zur Ordnung! Zur Ordnung!«
    »Zur Ordnung! Zur Ordnung!« schrien Herr La Rouquette und seine
Freunde noch lauter als die anderen, obgleich sie nicht wußten,
wovon die Rede sei.
    Der Lärm war furchtbar. Es war ein wütendes Stampfen, das
Grollen eines Gewitters, hervorgerufen durch ein heftiges Klappern
mit den Schreibpulten. Kreischende, überhelle Stimmen, wie aus
Pickelflöten kommend, kreuzten andere, schnarrende, langgedehnte
Stimmen, die den begleitenden Akkorden einer Orgel glichen.
Zuweilen schien ein Stillstand in dem Gepolter eintreten zu wollen;
dann hörte man einzelne Rufe:
    »Das ist schändlich! Das ist unerträglich!«
    »Er soll das Wort widerrufen!«
    »Ja, ja, widerrufen Sie!«
    Der hartnäckig wiederkehrende Ruf aber, dem das Stampfen mit den
Füßen gleichsam ein Gleichmaß verlieh, lautete: »Zur Ordnung! Zur
Ordnung!« Der Ruf kam immer wütender, immer schriller aus den
trockenen Kehlen hervor.
    Der Redner auf der Tribüne hatte die Arme gekreuzt und
betrachtete ruhig die wütende Kammer, diese bellenden Gesichter und
drohend geschwungenen Fäuste. Zweimal hatte er in der Meinung, daß
Stille eingetreten sei, den Mund geöffnet, was nur eine Erneuerung
des Gewitters, einen wahnsinnigen Wutausbruch herbeigeführt hatte.
Der Saal krachte in allen Fugen.
    Herr von Marsy, der aufrecht vor seinem Präsidentenstuhle stand
mit der Hand am Schwengel der Glocke, läutete ununterbrochen; es
war wie ein Sturmläuten inmitten eines Orkans. Seine hohe, blasse
Gestalt bewahrte vollkommene Kaltblütigkeit. Er hielt einen
Augenblick im Läuten inne, zog ruhig seine Manschetten hervor und
fuhr dann fort zu läuten. Sein schwaches, spöttisches Lächeln, eine
Art Zucken, das ihm eigentümlich war, spitzte die Winkel seiner
feinen Lippen. Als die Stimmen sich dämpften, rief er in den Saal
hinein:
    »Meine Herren, erlauben Sie … «
    Es trat eine verhältnismäßige Stille ein.
    »Ich fordere den Redner auf,« sagte der Präsident, »das Wort zu
erklären, das er soeben gesprochen.«
    Der Redner neigte sich vor, stützte sich auf den Rand der
Tribüne und wiederholte seinen Satz mit einer eigensinnigen
Bewegung des Kinns.
    »Ich habe gesagt, daß der zweite Dezember ein Verbrechen
war … «
    Er konnte nicht weitersprechen. Der Sturm
brach von neuem los. Ein Abgeordneter mit vom Zorn entflammten
Wangen schalt ihn einen Mörder; ein anderer schleuderte ihm eine so
schwere, unflätige Beschimpfung zu, daß die Stenographen lächelten
und sich hüteten, das Wort niederzuschreiben. Die Ausrufe kreuzten
sich, deckten einander. Doch hörte man die dünne Stimme des Herrn
La Rouquette heraus, der wiederholt rief:
    »Er schmäht den Kaiser! Er schmäht Frankreich!«
    Herr von Marsy machte eine würdevolle Handbewegung. Er setzte
sich und sagte:
    »Ich rufe den Redner zur Ordnung.«
    Es folgte eine anhaltende Aufregung im Saale. Das war nicht mehr
die schläfrige gesetzgebende Versammlung, die fünf Jahre früher
einen Kredit von viermalhunderttausend Franken für die Taufe des
kaiserlichen Prinzen bewilligt hatte. Auf einer Bank zur Linken
beklatschten vier Abgeordnete das Wort, das ihr Kollege von der
Tribüne herab gewagt hatte. Sie waren nunmehr ihrer fünf, die das
Kaiserreich bekämpften. Sie erschütterten es durch ein
fortwährendes Rütteln, verleugneten es, versagten ihm ihre Stimme
mit einer

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