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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nella Larsen
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dir zu kommen, ’Rene. Aber du bist ja immer gut zu mir gewesen.« Und bei ihrem unwiderstehlichen Lächeln verflog etwas von Irenes Ärger. Sie freute sich sogar ein klein wenig, dass sie gekommen war.
    Clare ging mit leichtem Schritt voran zu einem Zimmer, dessen Tür halb offen stand, und sagte: »Es gibt eine Überraschung. Eine richtige Party. Wirst sehen.«
    Als Irene eintrat, fand sie sich in einem Wohnzimmer, groß und hoch, an dessen Fenstern ungewöhnliche blaue Drapierungen hingen, die geschickt die Aufmerksamkeit von den düsteren, schokoladenfarbenen Möbeln ablenkten. Und Clare trug ein dünnes, fließendes Kleid in derselben Blauschattierung, was perfekt zu ihr und dem ziemlich schwierigen Zimmer passte.
    Einen Augenblick dachte Irene, das Zimmer sei leer, aber als sie den Kopf wandte, entdeckte sie, tief eingesunken in die Kissen eines großen Sofas, eine Frau, die so konzentriert zu ihr hochschaute, dass ihre Augenlider gespannt waren, als wären sie von der Anstrengung des nach oben gerichteten Blicks gelähmt. Zuerst hielt Irene sie für eine Fremde, aber im nächsten Moment sagte sie mit teilnahmsloser, fast scharfer Stimme: »Und wie geht es dir, Gertrude?«
    Die Frau nickte und zwang sich zu einem Lächeln auf ihren vorgewölbten Lippen. »Mir geht’s gut. Und du bist genau dieselbe geblieben, Irene. Kein bisschen verändert.«
    »Danke«, antwortete Irene und setzte sich hin. Sie dachte: ›Du meine Güte! Gleich zwei davon!‹
    Denn auch Gertrude hatte einen Weißen geheiratet, obwohl man ehrlicherweise nicht sagen konnte, dass sie als Weiße ›durchging‹. Ihr Mann – wie hieß er? – hatte dieselbe Schule mit ihr besucht und war sich durchaus bewusst gewesen, wie auch seine Familie und die meisten seiner Freunde, dass sie schwarz war. Es hatte ihm nach Irenes Kenntnis damals anscheinend nichts ausgemacht. Und jetzt?, fragte sie sich. Hatte Fred, Fred Martin, ja, so hieß er – hatte er seine Heirat wegen Gertrudes Rasse je bereut? Hatte Gertrude es?
    Sich an Gertrude wendend, fragte Irene: »Und Fred, wie geht’s ihm? Unglaublich, wie viele Jahre das her ist, seit ich ihn zuletzt gesehen habe.«
    »Ihm geht’s gut«, antwortete Gertrude kurz.
    Eine ganze Weile sprach niemand. Schließlich ließ sich aus dem bedrückenden kleinen Schweigen Clares freundliche Stimme im Plauderton hören: »Wir werden gleich Tee trinken. Ich weiß, du kannst nicht lange bleiben, ’Rene. Und leider, leider wirst du Margery nicht sehen. Am Wochenende sind wir zum Michigan-See rausgefahren, da wohnen Verwandte von Jack, nicht weit von Milwaukee. Margery wollte bei den Kindern bleiben. Es wäre nicht nett gewesen, ihr das nicht zu erlauben, besonders jetzt, wo es so heiß in der Stadt ist. Aber ich erwarte Jack jeden Augenblick.«
    Irene sagte knapp: »Wie schön.«
    Gertrude blieb schweigsam. Sie fühlte sich ganz offensichtlich etwas unbehaglich. Und ihre Anwesenheit verärgerte Irene, weckte in ihr ein mit Groll gepaartes Gefühl der Abwehr, für das sie momentan keine Erklärung hatte. Aber es kam ihr doch seltsam vor, dass die Frau, die Clare jetzt war, diese Frau eingeladen hatte, die Gertrude war. Freilich konnte Clare ahnungslos sein. Zwölf Jahre her, seit sie sich getroffen hatten.
    Als Irene später ihre Verärgerung analysierte, gab sie etwas zögernd zu, dass es aus dem Gefühl kam, unterlegen zu sein, dem Gefühl, alleinzustehen, da sie sich an ihre eigene Schicht und an ihre Leute hielt; nicht nur in dieser wichtigen Sache der Ehe, sondern auch in ihrem gesamten Lebensentwurf.
    Clare ergriff wieder das Wort, diesmal ausführlich. Sie sprach davon, wie Chicago sich für sie verändert hatte, nachdem sie so lange in europäischen Städten gewesen war. Ja, sagte sie als Antwort auf eine von Gertrudes Fragen, sie sei einige Male nach Amerika zurückgekommen, aber nur bis New York und Philadelphia, und einmal habe sie ein paar Tage in Washington verbracht. John Bellew, der anscheinend so etwas wie ein internationaler Bankkaufmann war, war nicht sonderlich davon angetan, dass sie ihn auf dieser Reise begleitete, aber sobald sie gehört hatte, die Geschäfte führten ihn wahrscheinlich bis nach Chicago, hatte sie sich entschieden, in jedem Fall mitzufahren.
    »Ich konnte nicht anders. Und sobald ich hier war, war ich entschlossen, alte Bekannte aufzusuchen und herauszufinden, wie es den anderen so ergangen war. Mir war nicht recht klar, wie, aber ich hatte es vor. Irgendwie. Ich wollte es gerade

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