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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nella Larsen
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hätte man sie angeschossen. Sie machte Stielaugen. Der Mund war weit aufgerissen. Sie versuchte zu sprechen, bekam aber die Worte nicht gleich heraus. Schließlich konnte sie stammeln: »Oh! Und dein Mann, ist er – ist er – äh – auch dunkelhäutig?«
    Irene kämpfte mit einer Flut von Gefühlen, Unmut, Ärger und Geringschätzung, konnte aber noch so gelassen antworten, als hätte sie nicht das Gefühl, fremd in dieser Gesellschaft zu sein und sie zu verachten, in der sie an einem heißen Augustnachmittag Eistee aus hohen, bernsteinfarbenen Gläsern trank. Ihr Mann, teilte sie ruhig mit, könne nicht gerade als Weißer ›durchgehen‹.
    Bei dieser Antwort schenkte Clare Irene ihr verführerisches, zärtliches Lächeln und bemerkte spöttisch: »Ich glaube wirklich, dass Farbige – wir – bei einigen Sachen richtig blöd sind. Schließlich ist die Sache für Irene oder Hunderte andere nicht wichtig. Nicht einmal so sehr für dich, Gertrude. Nur Abtrünnige wie ich müssen Angst vor den Launen der Natur haben. Wie mein hochgeschätzter Papa zu sagen pflegte: ›Für alles muss man zahlen.‹ Und kann mir jetzt bitte eine von euch erzählen, was es mit Claude Jones auf sich hat? Ihr wisst doch, der schlaksige Typ mit dem komischen kleinen Schnurrbart, über den sich die Mädchen so lustig gemacht haben. Wie ein feiner Streifen Ruß. Der Schnurrbart, meine ich.«
    Da kreischte Gertrude vor Lachen – »Claude Jones!« – und stürzte sich in die Geschichte, wie der nicht mehr Schwarzer oder Christ war, sondern Jude geworden war.
    »Jude!«, rief Clare aus.
    »Ja, Jude. Einen schwarzen Juden nennt er sich selbst. Er isst keinen Schinken und geht samstags in die Synagoge. Er trägt jetzt einen Vollbart und einen Schnurrbart. Ihr würdet euch totlachen, wenn ihr den sehen könntet. Er ist einfach zum Schreien. Fred sagt, er ist verrückt, und vermutlich stimmt das. Er ist einfach zum Piepen, umwerfend komisch!« Und sie kreischte wieder.
    Clares trillerndes Lachen ertönte. »Das klingt allerdings spaßig. Dennoch, das ist seine Angelegenheit. Wenn er damit besser zurechtkommt, indem er –«
    An dieser Stelle unterbrach Irene, die sich immer noch unglücklich an ihr stures Gefühl von Richtigkeit klammerte, und sagte scharf: »Offensichtlich kommt es euch nicht in den Sinn, weder dir noch Gertrude, dass er es vielleicht ehrlich meint, wenn er seinen Glauben wechselt. Nicht jeder tut alles bloß fürs Geld.«
    Clare Kendry musste nicht lange nach der Bedeutung dieser Äußerung suchen. Sie errötete leicht und entgegnete ernst: »Ja, ich gebe zu, das könnte möglich sein – will sagen, dass er es ehrlich meint. Es ist mir bloß nicht in den Sinn gekommen, das ist alles. Ich bin überrascht«, und der Ernst ging in Spott über, »dass du das erwarten würdest. Hast du das wirklich?«
    »Du nimmst doch wohl nicht an, dass ich auf solch eine Frage antworten kann«, sagte Irene. »Nicht hier und jetzt.«
    Gertrudes Gesicht drückte völlige Verwirrung aus. Als sie jedoch sah, dass auf den Gesichtern der zwei Frauen ein kleines Lächeln erschienen war, das sie nicht als Lächeln gegenseitigen Vorbehalts erkannte – was es war –, lächelte sie ebenfalls.
    Clare plauderte munter drauflos und vermied sorgsam alles, was zum Thema Rasse führen könnte oder sonst etwas Heiklem. Es war das glänzendste Beispiel einer Klippen umschiffenden Konversation, das Irene je erlebt hatte. Clares Worte strömten über die Frauen in bezaubernden, schön modulierten Kaskaden. Ihr Lachen war ein Trillern und Geklingel. Ihre kleinen Geschichten sprühten nur so.
    Irene steuerte hier und da ein knappes ›Ja‹ oder ›Nein‹ bei, Gertrude weniger häufig ein ›Was du nicht sagst!‹
    Eine Zeitlang war die Illusion einer allgemeinen Unterhaltung fast perfekt. Irene fühlte, wie ihr Groll langsam zu stiller, etwas widerwilliger Bewunderung wurde.
    Clare redete immer weiter, ihre Stimme, ihre Gesten färbten alles, was sie erzählte, die Kriegszeit in Frankreich, die Nachkriegszeit in Deutschland, die Spannung während des Generalstreiks in England, die Modeschauen der Couturiers in Paris, die neue Heiterkeit in Budapest.
    Aber diese verbale Meisterleistung konnte nicht andauern. Gertrude rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her und spielte mit ihren Fingern. Irene langweilte sich schließlich bei der Wiederholung derselben Dinge, die sie viel zu oft in Zeitungen, Illustrierten und Büchern gelesen hatte, und stellte ihr Glas ab,

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