Sekunde der Wahrheit
erfahren, aber jetzt ruht sie und soll nicht gestört werden«, war seine Reaktion. »Ich versuche, den Patienten die Wahrheit so genau wie möglich nahe zu bringen, aber ich würde nichts riskieren, um das Prinzip zu Tode zu reiten. Es hängt immer davon ab, was sie vertragen können. Verzeihen Sie meine Unwissenheit, aber … heißt der verunglückte Jockey vielleicht Pepe?«
»Ja, warum?«
»Weil eines der Dinge, die Ihrer Tochter auf der Seele brennen, die Frage ist, ob jemand namens Pepe tot ist.«
»Lieber Gott.«
»Ja. Aber da wir heutzutage noch keinen Beweis für Gedankenlesen haben, muß Kimberley irgendwie erfahren haben, daß Pepe einen Unfall hatte.«
»Wann wird sie voraussichtlich aufwachen?«
»Das läßt sich nicht genau vorhersagen. Die Schwester ist bei ihr, eine Mrs. Bates, sehr erfahren. Ich werde sie instruieren, daß sie Kimberley sagt, daß Pepe lebt, aber nur, wenn Kimberley fragt. Wäre Ihnen das recht?«
»Dr. Stern, ich bin Ihnen sehr dankbar für alles, was Sie bisher getan haben.«
»Kein Grund zu Dankbarkeit. Sie werden eine Rechnung bekommen.« Der junge Mann schien verlegen, als er in den Vorraum ging. »War nur meine Pflicht.«
»Von wegen«, hörte Andrew sich sagen.
»Versuchen Sie, es von der Seite aus zu betrachten, Mr. Cameron: Wir sind alle Vulkane, die äußerlich schlafen. Wenn die inneren Konflikte und Spannungen zu groß werden, brechen wir aus.« Er blieb stehen und schaute Andrew in die Augen. »Was Sie am meisten stört, ist der Kuß?«
»Sie sind der Menschenkenner …«
»Nun, dieser latente Wunsch muß in ihr schon längere Zeit geschlummert haben. Die verwirrenden und gefährlichen Ereignisse der letzten Tage brachten ihn dann explosionsartig ans Tageslicht. Es mag für Sie schockierend sein, aber mir erleichtert es die Aufgabe. Zumindest haben wir ein störendes Element sichtbar gemacht. Aber sich an die anderen heranzutasten, kann lange dauern.«
»Wie lang? Haben Sie eine Ahnung?«
Dr. Stern schüttelte den Kopf. »Nach einer so oberflächlichen Untersuchung kann ich das nicht sagen. Monate, vielleicht Jahre. Ich schlage einen Aufenthalt in einem Privatsanatorium vor. Wenn sie weiterhin meine Patientin wäre, müßte das Sanatorium so weit wie möglich von zu Hause liegen. Und die Prognose: Es wird lange Zeit dauern.«
›Monate, vielleicht Jahre.‹ »Doktor, haben Sie wenigstens eine Eintrittskarte für das Derby?«
Dr. Stern grinste und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Ich wohne in Louisville, aber ich bin noch nie beim Derby gewesen.«
»Dann wäre es mir ein Vergnügen, Sie heute nachmittag in meiner Loge mit Ihrer Gattin begrüßen zu dürfen.«
Der junge Mann überlegte, schüttelte aber dann den Kopf. »Es ist eine Versuchung, Mr. Cameron, und sehr freundlich von Ihnen. Aber Ihre Tochter wird auch da sein … ich habe ihr zu gehen empfohlen, da es ihr so wichtig ist. Meine Gegenwart würde sie stören und sie daran erinnern, daß sie nicht ganz gesund ist. Aber schönen Dank für die gute Absicht.«
Nachdem sie sich zum Abschied die Hände geschüttelt hatten und der Arzt verschwunden war, stand Andrew lange und starrte die geschlossene Tür an. ›Monate, vielleicht Jahre.‹ Es war wie das Urteil eines Gerichts. Die Verurteilung zu Gefängnis. Kimberley übte noch immer einen Druck auf ihn aus, stellte Forderungen …
Impulsiv wollte er zu Brigid.
War Blindheit eine Entschuldigung? Wie lange schon hatte er die Augen vor der Realität verschlossen? Wie lange hatte er nicht eingestehen wollen …
Nein. Er hatte keine Ahnung gehabt. Und der Arzt hatte da auch recht: ›Wenn so etwas passiert, dann neigt man dazu, zurückzublicken und jemand die Schuld zu geben. Meistens sich selbst.‹ Und er selbst hatte sich nie sexuell zu seiner Tochter hingezogen gefühlt, wie es umgekehrt der Fall gewesen zu sein schien. Niemals. ›Aber vergangene Probleme wälzen bringt nichts außer Kummer und Sorgen.‹
Er nahm den Hörer ab und wählte Brigids Nummer.
»Ja?« Ihre Stimme, ihre geliebte Stimme.
»Brigid …«
»Ja, Andrew?«
»Brigid, hast du irgend etwas vor zwischen jetzt und dem Start des Derbys?«
»Ich … schreibe gerade Briefe. Ich tue gerade das, was die meisten Leute tun, nämlich nicht viel, Liebling.«
»Würdest du dann …«
»Andrew, bist du noch da? Du klingst so fremd. Ist irgend etwas …«
»Würdest du gern nach New York fliegen?«
»Nach New York?«
»Mit mir … in meinem Flugzeug.«
Aber als
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