Sekunde der Wahrheit
sonst geschehen mag. Das ist ein Versprechen.«
Er schaute nach vorn in die Wolken und fügte nach einer Pause hinzu: »Es kommt eine Zeit, in der ein Mann, wie alt er auch sein mag, eine Bilanz ziehen muß über das, was er will und was er mit sich angefangen hat. Und er muß sich sein weiteres Leben betrachten und sehen, was er davon erwartet, ohne Rücksicht auf die Forderungen von anderen Menschen und sogar ohne Rücksicht auf alte Verpflichtungen. Wenn das egoistisch ist, dann muß es eben egoistisch sein. Im Oktober sehen wir uns ganz sicher wieder. Ich verspreche es dir.«
»Es dauert nicht so sehr lang«, war alles, was Brigid herausbrachte, weil die Freude, die in ihr aufstieg, ihr fast die Luft nahm. Sie legte eine Hand auf seine am Steuerknüppel. Sie fühlte sich wieder jung, sehr jung. Wie ein Schulmädchen aus Galway, dem noch die ganze Welt offen stand, viel versprechend und verlockend. Zum zweiten Mal in ihrem Leben war sie bereit, sich ganz einem Mann hinzugeben.
Auf dem restlichen Flug hatten sie kaum noch ein paar Worte gewechselt. Es war alles gesagt. Und in der engen Kabine hoch über der Erde waren sie zufrieden, zusammen zu sein und einmal von der übrigen Welt nichts hören zu müssen.
Als Wyatt sich auf die Elf-Uhr-Sendung in der Glaskabine am Ende des Presseraums – der jetzt fast verlassen war bis auf ein paar Reporter an Schreibmaschinen mit Mint Juleps in Pappbechern vor sich auf dem Tisch – vorbereitete, schob er noch einmal die Blätter in die richtige Reihenfolge, ohne sich auf dem Monitor anzuschauen. Er wußte zu gut, wie er aussah, und von nun an würde er sich nicht mehr betrachten können, ohne vor der Beschreibung zurückzuzucken.
Der lange Zigarettenhalter, der spöttische Blick, das faltige Doppelkinn, bei dem Anblick wurde ihm schon schlecht. Er wußte nicht, wie er die Sendung überstehen sollte – die einst seine Freude, sein Stolz gewesen war.
Und was sollte er nachher anfangen? Er mußte sich vom Presseraum nach dem Derby fernhalten. Aber wohin sollte er statt dessen gehen?
Das rote Licht ging an. Er war auf Sendung.
»Wieder einmal begrüße ich alle meine Anhänger und Freunde, die die Derbywoche bisher lebend überstanden haben. Hier spricht Graf Wyatt aus dem Clubhaus von Churchill Downs in Louisville am Ufer des trägen und verschmutzten Ohio.
In fünfundvierzig Minuten wird das erste Rennen des Tages beginnen, und dann, weniger als sechs vergnügliche Stunden später, erleben wir den Start des berühmten Kentucky Derby, den Höhepunkt der Saison. Die Tribünen sind erst halb voll, aber das Innenfeld quillt jetzt bereits mit schwitzenden Menschen über. Insgesamt werden hundertfünfunddreißigtausend Zuschauer erwartet.
Aber versuchen Sie nicht, jetzt noch einen Sitzplatz kaufen zu können. Die sind fast alle schon seit dem letzten Jahr reserviert. Viele Leute verfolgen das Derby auf dem Bildschirm, entweder zu Hause oder bei den Wettschaltern. Vergessen Sie dann nicht einen Faltstuhl! Es wird von den Verantwortlichen erwartet, daß heute nachmittag fünfundzwanzigtausend verwässerte Mint Juleps getrunken werden, von den Hektolitern Bier ganz zu schweigen.
Heute steht also das klassische Rennen über eineinviertel Meilen, genau über 2.011 Meter, auf dem Programm, und die Börse beträgt 240.000 – in Worten zweihundertvierzigtausend – Dollar. Obgleich Ihnen die Besitzer und Trainer sagen werden, daß sie den Rennsport nicht wegen des Geldes betreiben, hat noch niemand seinen Anteil an der Börse zurückgewiesen. Selbst bei unserer Inflationsrate kann man sich für eine Viertelmillion einige Lebensmittel im Supermarkt kaufen. Aber abgesehen vom Geld, ist ein Derbysieg das nächste, was ein Mensch an Unsterblichkeit erreichen kann, jedenfalls in der Arena des Sports.
Der Herausgeber des ›Louisville Courier-Journal‹ nannte das Derby 1973 ›der Nation prominentestes Fest der Habsucht‹, während man es bei John Steinbeck anders lesen kann: ›Das Kentucky Derby, was es auch darstellen mag – ein Rennen, ein Gefühl, eine Turbulenz, eine Explosion –, ist eines der schönsten und gewalttätigsten und befriedigendsten Dinge, die ich je erlebt habe.‹ Die Wahrheit liegt vermutlich wie immer dazwischen – über die Anziehungskraft des Derbys brauchen wir kein Wort zu verlieren.
Die Wahrheit indessen liegt nicht auf der Rennbahn, nicht auf den Tribünen, im Innenfeld oder in den Stallungen. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Stadt.
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