Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
Therapeut erkannte sofort die Schwere des Falles und empfahl ein Buch: »Mut zum Nein sagen: Grenzen setzen ohne Schuldgefühle«. Im Klappentext las er: »Haben Sie häufig den Drang, auch mal Nein zu sagen und Ihren Mitmenschen einmal ganz konsequent zu zeigen, wo Ihre Grenzen liegen? Dieses Buch möchte Ihnen dabei helfen, sich vor Überforderung zu schützen und Ihre persönlichen Grenzen auf sachliche und verständliche Art klar zu machen.« Scrooge fühlte sich endlich verstanden und lieh sich das Buch vom Therapeuten in der Hoffnung, darin Antworten auf seine Probleme zu finden.
Der hochsensible Patient las in der folgenden Nacht das Buch in einem Zug durch. Es war wie eine Offenbarung! Er erkannte sich in jedem Fallbeispiel wieder und beschloss, sein Leben neu aufzustellen. Er musste lernen, nein zu sagen, Grenzen zu setzen. Spät, aber jetzt doch. Nun galt es, endlich an sich selbst zu denken. Vom Buch animiert, nahm er sich für die nächsten Wochen vor, sich über drei Fragen klarzuwerden: Was sind meine persönlichen Grenzen, und wie entstehen sie? Wie finde ich heraus, wo meine eigenen Grenzen sind? Und wie kann ich meine Grenzen anderen gegenüber durchsetzen?
Eine erste gute Gelegenheit, die neuen Erkenntnisse anzuwenden, ergab sich im Gespräch mit seiner Verlobten. Diese machte schon länger Druck auf ihn und drängte auf eine Veränderung, die er selber nicht wollte. Bis jetzt war er einfach zu gutmütig gewesen, um ihr das klipp und klar zu sagen. Dickens, der definitiv nicht das psychologische Wissen unserer Zeit hatte, hat das Gespräch zwar authentisch wiedergegeben, bringt aber eine moralische Wertung hinein und interpretiert die Situation dadurch völlig falsch. Deshalb ist im folgenden Dialog nur die direkte Rede wörtlich zitiert, das emotionale Erleben des Ebenezer Scrooge wurde nach den neuesten psychologischen Erkenntnissen rekonstruiert.
Die Verlobte agiert vorwurfsvoll und passiv-aggressiv gegen ihn, sie fühle sich vernachlässigt und wirft ihm vor, sich nur noch für sein Geld zu interessieren: »Ein anderes Götzenbild hat mich verdrängt; und wenn es Sie in späterer Zeit trösten und aufrechterhalten kann, wie ich es versucht hätte, so habe ich keine Ursache zu klagen.« Klare Sache, hier appelliert sie an sein hochsensibles Mitgefühl und rechnet damit, ihn so manipulieren zu können. Doch Ebenezer Scrooge hat in der Selbsthilfegruppe und in seinen Einzeltherapiestunden gelernt: Du musst dich abgrenzen! Also zuerst einmal Zeit gewinnen, so tun, als hätte man sie nicht verstanden: »Welches Götzenbild hätte Sie verdrängt?«, erwidert er souverän. »Ein goldenes.« Uff, jetzt will sie ihm ein schlechtes Gewissen machen. Ist mit einer gewissen Schulung aber durchschaubar. Am besten nicht weiter darauf eingehen, sondern Gegenangriff: »Dies ist die Gerechtigkeit der Welt! Gegen nichts ist sie so hart als gegen die Armut; und nichts tadelt sie unnachsichtiger als das Streben nach Reichtum.« Das hat gesessen! Scrooge ist mit sich zufrieden. Nicht manipulieren lassen ist der Schlüssel zum Sieg! »Sie fürchten das Urteil der Welt zu sehr. Alle Ihre andern Hoffnungen sind in der einen aufgegangen, vor diesem engherzigen Vorwurf gesichert zu sein. Ich habe Ihre edleren Bestrebungen eine nach der andern verschwinden sehen, bis Sie ganz die eine Leidenschaft, die Gier nach Gold, erfüllte. Ist es nicht so?«, antwortet sie scheinheilig. Wie untergriffig! Wie kann eine so hübsche Frau nur so vorwürfig sein? Aber Scrooge konzentriert sich: Was würde der Therapeut jetzt sagen? Abprallen lassen, souverän abprallen lassen! »Und wenn es so wäre? Wenn ich so viel klüger geworden wäre, was dann? Gegen Sie bin ich nie anders geworden«, antwortet er locker. Sie schüttelt demonstrativ den Kopf. Unser Patient wird jetzt leider ein wenig unsicher: »Bin ich anders?« Sie merkt sofort, dass sie ihn so fangen kann, und setzt nach: »Unser Bund ist alt. Er wurde geschlossen, als wir beide arm und zufrieden waren, unser Los durch ausdauernden Fleiß verbessern zu können. Sie haben sich aber verändert! Damals, als er geschlossen wurde, waren Sie ein anderer Mensch.« Der Patient wankt. Jetzt kommt sie auf die romantische. Herzzerreißend. Ist das schon für einen unsensiblen Menschen kaum zu ertragen, wie erst für einen hochsensiblen? Jetzt schnell weg mit den Gefühlen! Abgrenzen! Man muss die Sache mit der Verlobung relativieren: »Ich war ein Knabe«, sagt er mit einer Bestimmtheit,
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