Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
Eigenschaften. Als sie an der Reihe ist, sagt sie nur, dass er vor der Hochzeit großzügig gewesen sei, jetzt aber knausrig. »Positiv!«, mahnt der Psychiater freundlich ein. Gut, also vor der Hochzeit sei er zärtlich gewesen, jetzt aber gleichgültig.
Nach drei weiteren Versuchen gibt der Psychiater auf: Versuchen wir es mit einer selbstkritischen Analyse der eigenen Rolle? Ronald G. gibt seine Gefühlskälte zu, ebenso dass er sich geirrt habe und dass er sich jetzt auch dafür entschuldigen wolle. Als Frau G. an die Reihe kommt, antwortet sie: »Ich habe keine Fehler gemacht.« Der Psychiater versteht nicht. Jeder mache doch Fehler, wir seien ja Menschen. Nein, sie habe keine Fehler gemacht.
Das Gespräch wandelt sich zu einer Scheidungsmoderation. Sie stellt hohe finanzielle Forderungen – er willigt sofort ein. Beim Hinausgehen flüstert sie dem Psychiater zu: »Er hat Sie eingekocht!«
ANALYSE: Dorothea G. hat Defizite in der Selbsterkenntnis: Sie kann oder will ihre Handlungsmotive und Defekte bei sich selbst nicht wahrnehmen. Dadurch wirft sie dem Ehemann das vor, was sie selbst am meisten auszeichnet: manipulatives Verhalten.
ZUSAMMENFASSUNG : Relativ selten kommt es vor, dass jemand sich für etwas schuldig fühlt, woran er gar nicht schuldig ist. Das ist dann ein psychiatrischer Fall. Normalerweise hat man aber Schuldgefühle, weil man schuldig ist. Es ist völlig normal, schuldig zu werden. Das menschliche Leben besteht darin, Unrecht zu erleiden und Unrecht zu tun. Schuldbewusstsein, Schuldgefühle, Gewissensbisse und ein schlechtes Gewissen sind an und für sich Zeichen für psychische Gesundheit. Wer sich seiner Schuld stellt, gewinnt an Handlungsspielraum.
2. Kapitel
Zwölf Ursachen der Makellosigkeit
Ebenezer Scrooge auf der Couch
I n einer psychiatrischen Praxis begegnet man vielen Menschen, die davon überzeugt sind, dass sie nie etwas falsch gemacht haben. Ihr ganzes Leben lang. Es gibt eine Reihe von psychopathologischen Mechanismen, die dem normalen, fehlerhaften Menschen die Schuld nehmen und ihn in ein Unschuldslamm verwandeln: Perfektionismus, Ichhaftigkeit, Selbstwertüberhöhung, Narzissmus, Selbstempathie, Wehleidigkeit, Sentimentalität, Selbstmitleid, Abgrenzung, Lebenslügen, Selbstbetrug und innere Widersprüchlichkeit. Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, denn uns Psycho-Experten fällt ja ständig etwas Neues ein. Alle diese Faktoren sind verwandt miteinander, bedingen einander und überschneiden sich auch teilweise. Sie nehmen die Verantwortung und blockieren den Menschen in der Makellosigkeit. Alle diese Ingredienzien sind jedenfalls zur artgerechten Aufzucht eines makellosen Unschuldslamms hilfreich. Das Unschuldslamm wiederum schreit psychodynamisch nach einem Schuldigen. Denn einer muss ja schuld sein, wenn auch niemals – niemals! – man selber es ist.
Der hochsensible Ebenezer Scrooge
Ebenezer Scrooge war hochsensibel. Das konnte Charles Dickens vor 150 Jahren freilich noch nicht wissen, weil die Forschung damals noch nicht so weit war. Deshalb zeichnet er seinen Helden in seiner »Weihnachtsgeschichte« etwas verzerrt. Aber uns Fachleuten fällt es natürlich nicht schwer, die wahren psychologischen Umstände aus den bestehenden authentischen Dialogen herauszuholen. Scrooge selbst wusste lange Zeit nicht, dass er hochsensibel war. Bis er von einem Freund zu einem Treffen der HSP-Selbsthilfegruppe mitgenommen wurde. HSP steht für High Sensitive Persons – hochsensible Menschen, denen der geringste Lärm, eine harmlose Bitte oder auch ein bettelnder Landstreicher zu nahe gehen. Dort lernte er, dass auch Jesus hochsensibel gewesen sei, wie auch alle anderen Religionsstifter und auch die Druiden. Anders lasse sich deren Schaffen und Charisma ja gar nicht erklären. Das war überzeugend. Mit dem uneingeschränkten Mitfühlen und Mitleiden müsse man aber richtig umgehen lernen: abgrenzen, abgrenzen, abgrenzen! Das lerne man am besten in einer Psychotherapie.
Scrooge fühlte sich verstanden: Das war tatsächlich sein Problem! Hochsensible Menschen wie er neigen dazu, unter der Last der anderen zusammenzubrechen. Sie fühlen so sehr mit, dass es ihnen am Ende noch schlechter geht als demjenigen, der ihnen sein Leid geklagt hat. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Die vielen armen Leute, die ihm in London immer wieder über den Weg liefen: das belastete ihn einfach zu sehr! Und es machte ihm richtiggehend Schuldgefühle. Der
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