Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
Kollegen spielen das Spiel dieses Selbstbetruges mit – möglicherweise auch aus persönlichem Unvermögen, mit der eigenen Schuld richtig umzugehen. Dann wird aus der Therapiestunde eine konspirative Sitzung, aus dem Therapeuten ein Verbündeter und aus der Psycho-Sprache eine Kampfrhetorik, die den Partner ins Eck drängt und zum Täter umdeutet. Die erhöhte Scheidungsrate von Psychotherapeuten könnte durchaus in diese Richtung gedeutet werden.
In meiner (übrigens auch systemischen) Psychotherapieausbildung hatten wir jede Menge »Selbsterfahrung« zu absolvieren, zum Teil unter vier Augen mit einem erfahrenen Lehrtherapeuten, zum Teil in kleinen und größeren Gruppen. Dabei hatte jeder der gesamten Kollegengruppe im »vertraulichen Rahmen« von seinen intimen Seelenbewegungen zu berichten. Erwünschte und willkommene Themen waren etwa Zoff mit den Schwiegereltern, Rosenkriege, besser aber noch Ehebrüche oder Sexualphantasien. Nur damit Sie sich etwas vorstellen können. Ich entschied mich in einer dieser Sitzungen, es muss um das Jahr 1995 gewesen sein, eine persönliche Schuld preiszugeben. Mir war schon vor dem Erzählen eigentümlich klar, dass ich damit mit dem Feuer spiele und einen Tabubruch wage, dass das da jetzt nicht hingehört – und hatte gleich nach vollbrachter Tat das Gefühl, etwas definitiv Falsches gesagt zu haben. Und das ist nun in einer Runde von Psychos auf dem Selbsterfahrungstrip wahrlich nicht leicht. Denn wie kann man etwas Falsches sagen, wenn es eigentlich nichts Falsches gibt? Es war auch nicht die Sache an sich, denn wir waren ja »offen für alles«. Nein, es war mein exponiertes Schuldbewusstsein, das die staunende Gruppe verwirrte und verstörte. Das war neu! Das war, gelinde gesagt, unüblich. Ja, wahrscheinlich und ziemlich sicher war es auch unprofessionell. Und auf jeden Fall war es unerwünscht. Die Gruppenleiterin rettete die peinliche Situation: Empathisch neigte sie sich mir zu und flüsterte, mir fachfrauisch tief in die Augen blickend – und ich meine mich zu erinnern, dass sie mich dabei auch an der Hand gefasst hat: »Raphael, du bist nicht schuld, du hast es damals nicht besser gekonnt. Kannst du das annehmen?« Jetzt wiederum war ich erstaunt. Eben weil ich besser gekonnt hätte, weil ich das Gute hätte tun können und mich für das Schlechte entschieden hatte, deswegen hatte ich ja Schuldgefühle! Ich erinnere mich nur dunkel, wie die Gruppenstunde weiterging. Aber mir ist bis heute das schale Gefühl geblieben, mit dieser Antwort nicht ganz ernst genommen worden zu sein. Ich wurde mit meinen Schuldgefühlen als Mensch nicht verstanden, sondern auf einen »psychischen Apparat« reduziert, der nicht richtig funktioniert und deswegen eine Fehlermeldung (das Schuldgefühl) produziert. Ich bin jedenfalls dankbar für diese Selbsterfahrungsgruppe. Denn ich habe damals tatsächlich etwas selbst erfahren.
Manchmal werden wir Psychotherapeuten vom Klienten gefragt: »War das jetzt gut, was ich getan habe? Oder war es schlecht?« Ich weiß nicht, wie da Kollegen antworten. Meine Standardantwort jedenfalls lautet: »Gnädige Frau bzw. mein Herr, Sie befinden sich in dieser Praxis in einer moralfreien Zone. Es kann nicht meine Aufgabe sein, Ihre Handlungen moralisch zu beurteilen.« Die »moralfreie Zone« ist für die Therapie wichtig, denn das Betrachten von Handlungsmustern ohne moralische beziehungsweise moralisierende Einengung ermöglicht oft einen ungetrübten Blick auf die Fakten, die durch ängstliche Selbstzuschreibungen (»Ich bin doch ein guter Mensch, also kann nicht sein, dass …«) sonst verschleiert würden. So weit befinde ich mich da also noch im psychotherapeutischen Mainstream. »Das bedeutet nicht«, fahre ich dann zudem üblicherweise fort, »dass nicht alle Ihre Handlungen auch eine moralische Dimension haben, aber die besprechen Sie besser mit einem Seelsorger.« Moralische Werturteile stehen dem Psychotherapeuten nicht zu. Dazu soll – je nach Glaubenszugehörigkeit – ruhig der Pfarrer, der Rabbiner oder der Imam verhelfen. Aber erlebte eigene Schuld als solche auszusprechen – das muss doch auch in einer Therapie möglich sein, ohne dass sofort der Psychologisierungsreflex eintritt und Schuld zum neuronalen Kurzschluss oder zu einem soziologischen Dominoeffekt degradiert wird – und anschließend wegoperiert.
Der Buchtitel »Selber schuld!« ist natürlich irritierend, das gebe ich zu. Diese Irritation ist durchaus
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