Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
der Einführung die klassische psychiatrische Krankheitslehre als Leitfaden verwendet werden, um systematisch Auftrag und Grenzen dieses Buches zu klären. Es werden zumeist drei Ursachen für psychisches Leiden genannt, die oft kombiniert auftreten. Erstens die sogenannten endogenen Störungen, bei denen der Hirnstoffwechsel durcheinandergeraten ist. Da kann niemand etwas dafür, weder der Betroffene noch seine Eltern, noch die Umwelt – nicht einmal die Lehrer. Also kann man bei einer endogenen Depression dem Leidenden auch nicht sagen, er möge sich doch endlich ein wenig zusammenreißen. Ebenso wenig kann man den Eltern die Schizophrenie ihres Kindes vorhalten, wie es leider in manchen psychotherapeutischen Schulen über lange Jahre irrigerweise gemacht wurde. Der Mensch ist krankheitsanfällig von der Wiege bis zum Grab, und eine dieser möglichen Krankheiten betrifft eben die Botenstoffe im Gehirn. Diese Störungen sind in diesem Buch ausdrücklich kein Thema.
Der zweite Grund, warum jemand psychisch leiden kann, sind die sogenannten reaktiven Störungen. Hier geht es um eine psychische Reaktion auf eine Traumatisierung, in deren Folge sich eine posttraumatische Belastungsstörung oder eine Anpassungsstörung entwickeln kann. Das Trauma kann ohne Schuld irgendeines Menschen aufgetreten sein – etwa durch Naturkatastrophen wie ein Erdbeben – oder durch eigene oder fremde Schuld ausgelöst werden. Fremde Schuld wäre etwa eine Vergewaltigung oder ein Raubüberfall mit Verletzung des Opfers. Eigene Schuld wäre beispielsweise ein durch überhöhte Geschwindigkeit selbst verschuldeter Verkehrsunfall, bei dem jemand ernsthaften Schaden erleidet. Das wollte man nicht: so etwas kann man sich selbst oft nur schwer verzeihen. Auch diese psychischen Störungen sind in dem vorliegenden Buch nicht gemeint.
Die dritte Dimension des subjektiven Leids wird in den klassischen alten Lehrbüchern so anschaulich »neurotische Entwicklung« genannt. Hier verheddert sich das Ich in sich selbst, der Mensch kreist mehr und mehr um sich. Perfektionismus, Ichhaftigkeit, Wehleidigkeit, Sentimentalität, Opfergejammer und Selbstmitleid können die Folge sein. Es entwickelt sich mitunter eine zunehmende Angst um sich selbst. Selbsterkenntnis wird angstvoll vermieden. Schuldige für das eigene Leiden werden außerhalb seiner selbst gesucht. So wird die Schuld im Sinn einer Fremdbeschuldigung wegprojiziert, die Angst scheinbar gebannt. Die neurotische Lebenseinstellung vergiftet das menschliche Zusammenleben und die persönliche Lebensqualität. Genau diese Mechanismen werden in diesem Buch zur Sprache gebracht. Hier greift das Sprichwort »Wie man sich bettet, so liegt man«. Aufgrund der Opfermentalität und der ausgeprägten Fremdbeschuldigung können die Betroffenen aus Fehlern nicht klug werden.
Die Psychotherapie tut sich mit der Schuldfrage schwer. Während viele Kollegen durchaus behutsam mit dem Thema umzugehen vermögen, macht es sich eine nicht unerhebliche Minderheit leicht, indem sie die Schuld kurzerhand wegerklärt und Fehler nichtanwesenden Dritten in die Schuhe schiebt (siehe die oben zitierte Täterliste von Watzlawick, die beliebtesten Prügelknaben dafür sind noch immer die Eltern). Das bedeutet aber, dass der Patient in Opferfalle und Fremdbeschuldigung steckenbleibt. In meinem Medizinstudium ließ ein erfahrener Oberarzt einmal in der Psychiatrievorlesung augenzwinkernd ein launisches Bonmot fallen, das Aufmerksamkeit erregte: »Nach einer Psychotherapie machen die Leute dasselbe wie vorher – nur ohne schlechtes Gewissen.« Nach lautem Lachen machte sich unter uns Studenten Nachdenklichkeit breit: Redet die Psychotherapie dem Patienten wirklich nur das schlechte Gewissen aus? Dass in dieser humorvollen Übertreibung ein Körnchen Wahrheit steckt, konnte ich in der Zwischenzeit an einigen traurigen Patientenschicksalen feststellen. Mir scheint fast, wir haben kollektiv unser Schuldbewusstsein verloren oder versuchen es krampfhaft auszumerzen wie eine schwere Krankheit. Dabei liest man ja fast täglich von seelischen Grausamkeiten, von fürchterlichen Tätern – aber das sind eben ausnahmslos die anderen! Therapeuten können ein Lied davon singen: Viele Patienten werden in der Arbeit gemobbt, aber keiner mobbt. Viele werden von ihrem Partner schlecht behandelt, aber keiner behandelt seinen Partner schlecht. Aggressive Fremdbeschuldigung ohne Selbstkritik macht aber mit der Zeit beziehungsunfähig. Manche
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