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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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sitzen und ergriff meine ausgestreckte Hand erst, als ich sie schon wieder zurückziehen wollte. »Nehmen Sie Platz!« Er winkte mich zum Stuhl, der neben dem Schrank stand, Meter entfernt vom Schreibtisch. Als ich den Stuhl holte und mich an den Schreibtisch setzte, runzelte er die Stirn, als träte ich ihm zu nahe.
    Ich faßte mich kurz: »Ein Fall hat mich ins Psychiatrische Landeskrankenhaus geführt. Dort kam mir manches spanisch vor. Sagen Sie – hat die Polizei unlängst dort zu tun gehabt?«
    »Ich sehe mich außerstande, Ihnen Einblick in unsere Arbeit zu geben. Es ist gegen die Vorschriften.«
    Wir haben uns noch nie um die Vorschriften gekümmert, sondern einander die Arbeit und das Leben leichter gemacht. Er weiß, daß ich keinen Unfug mit dem treibe, was er mir anvertraut, und ich weiß es ebenso, wenn ich ihm etwas anvertraue. Ich verstand nicht: »Was ist denn in Sie gefahren?«
    »Gar nichts ist in mich gefahren.« Er schaute mich feindselig durch die kleinen, runden Gläser seiner Brille an. Ich hatte eine scharfe Antwort auf den Lippen. Dann begriff ich. Der Blick war nicht feindselig, sondern unglücklich. Jetzt hatte er ihn gesenkt und sah vor sich auf die Zeitung. Ich stand auf und trat neben ihn.
    Monumente Italiens, in Kork modelliert – der Zeitungsartikel berichtete über eine Ausstellung in Kassel, auf der antike Bauten, vom Pantheon bis zum Kolosseum, zwischen 1777 und 1782 von Antonio Chichi in Rom in Kork gefertigt, zu bewundern waren. »Lesen Sie den Schluß!« Ich beeilte mich. Am Ende des Berichts wurde ein Leipziger Kunsthändler zitiert, der 1786 nichts fähiger fand, einen richtigen und erhabenen Begriff der Originale zu geben, als meisterhafte Korkmodelle. In der Tat hätte ich die Abbildung des Modells vom Kolosseum bei entsprechendem Hintergrund für ein Bild des Originals genommen.
    »Ich fühle mich wie Scott, der am Südpol das Zelt von Amundsen findet. Reni meint, wir sollten am Wochenende nach Kassel fahren; ich würde sehen, daß es wie Äpfel und Birnen ist. Aber ich weiß nicht.«
    Auch ich wußte nicht. Mit fünfzehn hat Nägelsbach angefangen, bedeutende Baudenkmale aus Streichhölzern nachzubilden. Gelegentlich hat er sich an anderem versucht, an Dürers Betenden Händen und am Goldhelm von Rembrandts Mann mit dem Goldhelm , aber sein Lebensehrgeiz und sein Ruhestandsvorhaben ist der Nachbau des Vatikans. Ich kenne und schätze Nägelsbachs Arbeiten, aber eine den Korkmodellen vergleichbare Illusion von Wirklichkeit vermitteln sie tatsächlich nicht. Was sollte ich ihm sagen? Daß Kunst nicht Abbilden, sondern Gestalten bedeutet? Daß im Leben nicht das Ziel zählt, sondern der Weg? Daß die schöne Literatur sich nicht Amundsens angenommen hat, sondern Scotts?
    »Woran arbeiten Sie gerade?«
    »Ausgerechnet am Pantheon. Seit vier Wochen. Warum habe ich mich nicht für die Brooklyn-Brücke entschieden.« Er ließ die Schultern hängen.
    Ich wartete eine Weile: »Kann ich morgen noch mal kommen?«
    »Psychiatrisches Landeskrankenhaus sagten Sie? Ich ruf Sie an, wenn ich was weiß.«
    Mit einem tiefen Gefühl der Vergeblichkeit fuhr ich zurück nach Mannheim. Der Kadett schnurrte über den Asphalt. Manchmal knatterten die Reifen auf den gelben Knöpfen, die bei den Baustellen die Änderung der Fahrbahn markieren. Zu scheitern fällt im Alter nicht leichter als in der Jugend. Zwar erwischt es einen nicht zum erstenmal, aber womöglich zum letzten.
    Im Büro klang Salgers gepreßte Stimme vom Anrufbeantworter. Er bitte dringend um Nachricht. Ich solle ihn über seinen Anrufbeantworter vom Stand der Ermittlungen unterrichten. Er habe eine weitere Abschlagszahlung auf den Weg gebracht. Auch seine Frau bitte dringend um Nachricht. Er wolle nicht drängen, und dann drängte er, bis mein Anrufbeantworter ihm nach zwei Minuten das Wort abschnitt.

11
Bilder einer Ausstellung
    Nägelsbach ließ mich nicht lange warten. Er habe ein bißchen herumgehört, viel gebe es nicht: »Ich kann Sie gleich am Telephon ins Bild setzen.« Ich wollte ihn lieber treffen. »Heute abend? Nein, das geht nicht. Aber morgen früh bin ich wieder im Büro.«
    Es wurde eine Fahrt, die ich nicht vergessen werde. Beinahe wäre alles zu Ende gewesen. Bei der Baustelle in Friedrichsfeld, wo weder Mittelstreifen noch Leitplanken die Fahrbahnen der Autobahn trennen, kam ein Möbelwagen ins Schleudern, zog von der anderen über meine Fahrbahn gegen die Böschung und stürzte um. Ich war wie gelähmt. Der

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