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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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Direktor sein Liebling …« Er zuckte mit den Schultern. »Hatten wir halt einen Unfall. Einen tödlichen Sturz aus dem dritten Stock vom alten Bau.«
    Ich verschob die Würdigung dessen, was der Wärter lieber nicht gesagt haben wollte, auf später. »Und Ihr Patient?«
    »Das ist einer von unseren Russen. Kriegt manchmal seinen Rappel. Aber er muß ja auch an die Luft, und ich hab ihn im Griff. Gell, Iwan?«
    Der Patient wurde unruhig. »Anatol, Anatol, Anatol …« Er schrie den Namen. Der Wärter verstärkte den Griff, und das Schreien hörte auf. »Ist ja gut, Iwan, die tun dir schon nichts, der Blitz und der Donner, wer wird denn gleich, was soll denn der Herr Polizist denken.« Er redete in dem Singsang, mit dem man Kinder beruhigt.
    Ich holte meine Sweet Afton aus der Tasche, und der Wärter nahm eine. Dann bot ich dem anderen eine an. »Anatol?« Er fuhr zusammen, sah mich an, knallte die Hacken zusammen, machte einen Diener und tastete mit abgewandtem Kopf eine Zigarette aus dem Päckchen.
    »Heißt er Anatol?«
    »Was weiß denn ich, aus denen kriegt man nichts raus.«
    »Wer sind ›die‹?«
    »Oh, wir haben alle Sorten. Die sind vom Krieg übrig. Waren Arbeiter im Reich oder Hiwis oder kämpften mit irgendeinem russischen General. Dann die aus dem KZ , die dort gesessen oder bewacht haben. Wenn sie verrückt sind, sind sie alle gleich.«
    Der Regen wurde schwächer. Ein junger Wärter rannte mit wehendem Mantel in großen Sätzen an uns vorbei, sprang über die Pfützen. »He, beeil dich«, rief er, »ist gleich Feierabend.«
    »Na, dann wollen wir mal.« Der Wärter neben mir ließ die Zigarette fallen, und sie verlosch auf dem nassen Boden. »Auf Iwan, Essen fassen.«
    Auch der Patient hatte seine Zigarette fallen lassen, ausgetreten und mit dem Fuß sorgsam im Kies vergraben. Wieder schlug er die Hacken zusammen und machte einen Diener. Ich sah den beiden auf ihrem langsamen Weg zum neuen Funktionsbau am anderen Ende des Parks nach. Der Donner grollte weit weg, und der Regen rauschte in sanftem Gleichmaß. Unter den Türen tauchten Gestalten auf, ab und zu ging ein Arzt oder Wärter mit Regenschirm und raschem Schritt durch den Park. Die Amsel sang immer noch.
    Ich erinnerte mich an den Vermerk des Generalstaatsanwalts, der 1943 oder 1944 über meinen Schreibtisch bei der Staatsanwaltschaft Heidelberg gegangen war und verfügt hatte, daß wer von den russischen und polnischen Arbeitern lässig arbeitet, Zwangsarbeit im Konzentrationslager bekommt. Wie viele hatte ich dorthin geschickt? Ich starrte in den Regen. Mich fröstelte, die Luft nach dem Gewitter war klar und frisch. Nach einer Weile hörte ich nur noch die Tropfen von den Blättern der Bäume fallen. Der Regen war vorbei. Im Westen riß der Himmel auf, und die Wasserperlen funkelten in der Sonne.
    Ich ging zurück zum Hauptgebäude, durchs Treppenhaus, an der Pforte vorbei und trat aus dem Portal. Es war fünf Uhr, Schichtwechsel, das Personal strömte heraus. Ich wartete und hielt nach Wendt Ausschau, sah ihn aber nicht. Als einer der letzten kam der Wärter von eben vorbei, und ich fragte ihn, ob ich ihn irgendwo absetzen könne. Als wir im Wagen nach Kirchheim fuhren, versicherte er mir noch mal, daß er nichts gesagt haben wollte.

9
Nachträglich
    Nachträglich kam das Erschrecken über die Nachricht von Leos Tod. Nachträglich kam auch die Erleichterung darüber, daß die Nachricht nicht stimmen konnte. Wenn der Wärter nichts wußte, dann war nichts. Das glaubte ich ihm. Auch Eberlein hätte anders reagiert, wenn sich der tödliche Fenstersturz tatsächlich ereignet hätte. Hatte er mich überhaupt nur provozieren und aushorchen wollen? Jedenfalls hatte er in unserem Gespräch mehr von mir erfahren als ich von ihm. Daß mir auch das erst nachträglich aufging, ärgerte mich.
    Als ich zu Hause war, rief ich Philipp an. Manchmal ist die Welt klein – vielleicht wußte Philipp als Chirurg an den Städtischen Krankenanstalten etwas über das Psychiatrische Landeskrankenhaus und dessen Ärzte. Er war auf dem Weg zur Visite und versprach zurückzurufen. Aber nach einer Stunde klingelte es, und er stand vor der Tür. »Ich dachte, ich schaue lieber bei dir vorbei. Wir sehen uns so selten.«
    Wir saßen bei offener Balkontür auf den Ledersofas in meinem Wohn- und Arbeitszimmer. Ich entkorkte den Wein und erzählte Philipp von meinen Recherchen im Psychiatrischen Landeskrankenhaus: »Ich blicke nicht durch. Wendt mit seinen dummen Lügen,

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