Selbs Betrug
Möbelwagen schob sich über die Fahrbahn, mein Auto trieb auf ihn zu, als wolle es ihn rammen, der Möbelwagen wurde größer, war nah und hoch über mir. Ich habe nicht gebremst und mein Auto nicht nach links gezogen. Ich war völlig gelähmt.
In Sekundenbruchteilen war alles vorbei. Der Möbelwagen stürzte krachend um, Bremsen und Hupen schrien, und ein Auto, das die Spur verrissen hatte, schrammte kreischend an einem anderen entlang, das zum Stehen gebracht worden war. Ich hielt auf dem Seitenstreifen der Autobahn, stieg aus und konnte keinen Schritt tun. Dann fing das Zittern an, ich mußte die Muskeln anspannen und die Zähne aufeinanderbeißen. So stand ich, sah die Schlange der Autos wachsen, den Fahrer des Möbelwagens aus dem Führerhaus klettern, Schaulustige um die aufgesprungene Ladetür klumpen, den Polizeiwagen kommen und auch den Krankenwagen, der gleich wieder wegfuhr. Manchmal schlugen mir die Zähne aufeinander.
Aus dem Wagen, der hinter mir gehalten hatte, kam ein Mann zu mir. »Soll ich Ihnen einen Arzt holen?« Ich schüttelte den Kopf. Er faßte meine beiden Arme, schüttelte mich, nötigte mich an der Böschung zum Sitzen und zündete eine Zigarette an. »Mögen Sie?«
Ich konnte nur daran denken, daß man in den Monaten mit ›r‹ nicht auf bloßem Boden sitzen soll, und wir hatten April. Ich wollte aufstehen, hatte Angst um Blase und Prostata, aber der Mann hielt mich fest.
Nach der Zigarette ging’s allmählich wieder. Der Mann redete drauflos. Ich wußte schon wenige Sätze später nicht mehr, was er erzählt hatte. Als er ging, wußte ich auch nicht mehr, wie er aussah. Aber vor den Polizisten konnte ich meine Aussage schon wieder machen, ohne zu zittern.
Der Verkehr wurde Auto um Auto am gestürzten Möbelwagen vorbeigewunken. Aus der aufgesprungenen Ladetür war Umzugsgut auf die Autobahn gefallen, Bilder einer Ausstellung in Mannheim. Sie sollten unter Aufsicht des Custos der Mannheimer Kunsthalle geborgen werden. Über eine fast leere Autobahn fuhr ich nach Heidelberg.
Was Nägelsbach wußte, wußte er aus einer Akte eines Kollegen. Der war zur Zeit in Kur. »Seine Berichte sind sehr dürftig. Ihm ging’s wohl schon lange schlecht. Jedenfalls steht fest, daß es in den letzten Jahren gelegentlich Ärger im Psychiatrischen Landeskrankenhaus gab.«
»Ärger? Was ist das? Ist es Ärger, wenn ein Patient aus dem Fenster stürzt und sich den Hals bricht?«
»Um Gottes willen, nein. Ich rede von kleinen Pannen, kleinen Unfällen. Vielleicht ist Ärger überhaupt schon zuviel gesagt. Daß die Heißwasserversorgung zusammenbricht, Essen verdorben ist, die Fenster, die eingebaut werden sollen und im Hof stehen, zerschlagen werden, ein Patient ein paar Tage zu spät entlassen wird, ein Wärter von der Treppenleiter fällt – hat es überhaupt etwas zu bedeuten? Die Anzeigen sind auch nie von der Leitung gekommen, sondern nur von Patienten, Angehörigen oder anonym. Wenn man heute bei Anstalten und Heimen nicht so höllisch aufpassen müßte …«
»Geht es über das hinaus, was in jeder großen Organisation eben so passiert?«
Nägelsbach stand auf: »Kommen Sie mit.« Wir gingen auf den Flur, bogen um die Ecke und schauten durchs Fenster in den Hof der Polizeidirektion. »Was sehen Sie, Herr Selb?«
Links waren drei Polizeiwagen geparkt, rechts war der Boden aufgegraben und wurden Leitungen verlegt, die Fenster zum Hof waren teils offen, teils zu. Nägelsbach schaute zum blauen Himmel, über den ein frischer Wind kleine weiße Wolken trieb. »Einen Moment noch«, sagte er, und dann, als eine Wolke die Sonne verdeckte, gingen an allen Fenstern die Jalousien runter. Die Wolke zog weiter, und die Jalousien blieben unten.
»Von den drei Wagen stehen zwei fast immer hier, weil sie kaputt sind, die Abwasserleitung ist in diesem Jahr schon einmal aufgegraben und wieder zugeschüttet worden, und die Jalousien lassen sich jeden Sommer einen neuen Schabernack einfallen. Ist das noch, was in jeder großen Organisation eben so passiert? Oder stecken die Terroristen dahinter, die Autonomen, die Anarchos, die Skinheads?« Nägelsbach schaute mich ausdruckslos an.
Wir gingen zurück in sein Zimmer. »Und haben Sie etwas über einen Dr. Wendt?«
»Einen Moment. Das Terminal steht in einem anderen Zimmer.« Er kam ohne Ausdruck zurück. »Im Computer haben wir nichts. Aber wenn ich den Namen höre, klingelt’s. Ob zu Recht, weiß ich nicht. Ich muß die Akten wälzen, die wir aus
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