Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
Vom Netzwerk:
neugierig. Ihre geblümte Kittelschürze hielt zwei Zentner, die zwischen den Knöpfen kleine Wülste warfen. Die unteren Knöpfe hatten beim Bücken gestört und standen offen, der blaßrosa Unterrock schien hervor. Frau Kleinschmidt hatte sich gerade um die Erdbeeren gekümmert, als ich die Treppe zu Wendts Souterrainwohnung hinabgestiegen war und vergebens geklingelt und geklopft hatte. Als ich wieder hochgekommen war, hatte sie mich zu sich gerufen.
    Ich sah kopfschüttelnd auf meine Uhr: »Um fünf wollte mein Sohn heute zu Hause sein, aber jetzt haben wir viertel nach, und er ist noch nicht da.«
    »Normalerweise kommt er nie vor dreiviertel sieben.«
    Ich hoffte, auch heute nicht. Vor zwanzig Minuten war sein Auto noch vor dem Psychiatrischen Landeskrankenhaus gestanden. Ich hatte um halb fünf Posten bezogen, plötzlich die Lust am Warten verloren und mich der Glaubwürdigkeit des Alters erinnert. »Ich weiß, er arbeitet sonst bis sechs oder länger, aber er hat gesagt, daß er heute früher wegkann. Ich hatte geschäftlich in Heidelberg zu tun und muß heute abend wieder weg. Darf ich mich auf die Bank setzen?«
    »Ich kann Sie doch in die Wohnung von Ihrem Herrn Sohn lassen, warten Sie, ich hol gerade den Schlüssel.« Mit dem Schlüssel brachte sie einen Teller mit Marmorkuchen. »Ich hätt’s ihm sonst vor die Tür gestellt.« Sie drückte mir den Teller in die Hand und schloß auf. »Vielleicht mögen Sie versuchen. Was, haben Sie gesagt, haben Sie in Heidelberg gemacht?«
    »Ich bin bei der Badischen Beamtenbank.« Immerhin habe ich dort mein Konto. Und der alte graue Anzug, den ich anhatte, paßt zu einem badischen Beamten, der sich ins Bankfach verirrt hat. Frau Kleinschmidt fand mich hinreichend reputierlich und nickte mehrmals respektvoll. Das Kinn verdoppelte, verdreifachte, vervierfachte sich.
    In Wendts Wohnung war es kühl. Vom Gang gingen vier Türen ab, links ins Badezimmer, rechts in ein Wohnzimmer, in ein Arbeits- und Schlafzimmer und geradeaus in die Besenkammer. Die Küche lag hinter dem Wohnzimmer. Ich wollte um sechs wieder draußen sein und beeilte mich. Nach dem Telephon suchte ich vergebens; Wendt hatte keines. Also lag auch kein Büchlein mit Namen, Adressen und Telephonnummern neben dem Telephon. In den Schubladen der Kommode waren nur Hemden und Wäsche, im Schrank nur Hosen, Jacken, Pullover. In den Holzkästen, die Wendt als Böcke für die Schreibplatte benutzte, standen Leitzordner, Fachbücher und ein Lexikon, noch in Klarsichtfolie eingeschweißt, lagen Briefe, lose und in Bündeln, Rechnungen, Mahnungen, Strafzettel und dicke Stöße weißes Papier. Als hätte er ein großes Buch schreiben wollen und sich schon einmal mit Papier eingedeckt. An dem Korkbrett über der Schreibplatte hingen das Kinoprogramm vom ›Gloria‹, ein Prospekt für eine Munddusche, eine Ansichtskarte aus Istanbul und eine aus Amorbach, ein Schlüssel, ein Einkaufszettel und ein Cartoon mit zwei Männern. »Fällt es Ihnen eigentlich schwer, Entscheidungen zu treffen?« fragte der eine den anderen. »Ja und nein.«
    Ich nahm die Ansichtskarten ab. Aus Istanbul grüßten ein dankbarer ehemaliger Patient und seine Frau, aus Amorbach Gabi, Klaus, Katrin, Henner und Lea. Amorbach im Frühling sei wunderschön, die Kinder und Lea vertrügen sich prächtig, der Umbau der Mühle sei fast fertig, und er solle die Einladung nicht vergessen. Gabi hatte geschrieben, Klaus mit Schwung und Schnörkel unterzeichnet, Katrin und Henner hatten mit Kinderschrift gekrakelt, und von Lea stammte: »Hi, Lea.« Ich sah genau hin, aber es blieb dabei, Lea, nicht Leo.
    In den Leitzordnern waren das Material und die Entwürfe zu Wendts Doktorarbeit. Die gebündelten Briefe waren zehn und mehr Jahre alt; in den offenen berichtete die Schwester von ihrem Leben in Lübeck, die Mutter aus den Ferien und ein Freund über Fachliches. Ich wühlte auf der Schreibplatte im Durcheinander von Büchern, Zeitungen, Krankenberichten und Papieren, fand ein Sparbuch, ein Scheckheft und einen Paß, Prospekte für Kanada, den Entwurf einer Bewerbung an ein Krankenhaus in Toronto, die Nachrichten der Wieblinger Kreuzkirchengemeinde, einen Zettel mit drei Telephonnummern und den Anfang eines Gedichts.

    Daß im Unendlichen
    sich Parallelen
    schneiden
    wer kann das wissen?
    Daß du und ich …

    Für »du und ich« hätte ich gerne eine optimistische Fortsetzung gehabt. Daß Parallelen sich im Unendlichen schneiden, hat schon mein Vater, Beamter

Weitere Kostenlose Bücher