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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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Manuskripten bedeckt. Tyberg wickelte sich aus der Kamelhaardecke und kam auf uns zu, hochgewachsen, mit leicht vornübergebeugtem Gang, vollem weißem Haar, gepflegtem, kurz gehaltenem grauem Vollbart und buschigen Augenbrauen. Er trug eine Halbbrille, über die er uns mit neugierigen braunen Augen entgegensah.
    »Liebe Frau Buchendorff, schön, daß Sie sich auf mich besonnen haben. Und das ist Ihr Herr Onkel. Willkommen auch Sie in Villa Sempreverde. Wir sind uns schon einmal begegnet, hat mir Ihre Nichte erzählt. Nein, lassen Sie«, wehrte er ab, als ich zum Sprechen ansetzte, »ich komme selbst drauf. Ich arbeite gerade an meinen Erinnerungen«, er wies auf den Tisch, »und übe das Erinnern gern.«
    Er führte uns durch das Haus in den hinteren Garten. »Gehen wir ein paar Schritte? Der Butler richtet den Tee.« Der Gartenweg führte uns den Berg hoch. Tyberg fragte Judith nach ihrem Ergehen, ihren Vorhaben und ihrer Arbeit bei den RCW . Er hatte eine ruhige, angenehme Art, seine Fragen zu stellen und Judith durch kleine Bemerkungen sein Interesse zu zeigen. Trotzdem verblüffte mich, wie offen Judith, freilich ohne meinen Namen oder meine Rolle zu erwähnen, von ihrem Ausscheiden bei den RCW erzählte. Und ebenso verblüffte mich Tybergs Reaktion. Er war weder skeptisch, was Judiths Darstellung anging, noch empört über irgendeinen der Beteiligten, von Mischkey bis Korten, noch äußerte er Mitleid oder Bedauern. Er nahm einfach aufmerksam zur Kenntnis, was Judith berichtete.
    Zum Tee trug der Butler Patisserie auf. Wir saßen in einer großen Halle mit Flügel, die Tyberg Musikzimmer nannte. Das Gespräch hatte sich der wirtschaftlichen Situation zugewandt. Judith jonglierte mit Kapital und Arbeit, Input und Output, Außenhandelsbilanz und Bruttosozialprodukt. Tyberg und ich trafen uns in der These von der Balkanisierung der Bundesrepublik Deutschland. Er stimmte mir so rasch zu, daß ich zuerst fürchtete, er habe mich falsch verstanden und meine, es gebe zu viele Türken. Aber auch er hatte im Sinn, daß die Züge immer seltener und unpünktlicher fahren, die Post immer weniger und unzuverlässiger arbeitet und die Polizei immer dreister wird.
    »Ja«, meinte er nachdenklich, »es gibt auch so viele Vorschriften, daß die Beamten selbst sie nicht mehr ernst nehmen, sondern nach Lust und Laune mal streng, mal lax und mal auch gar nicht anwenden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Bakschisch die Lust und die Laune regiert. Ich überlege mir oft, welcher Typus von Industriegesellschaft daraus entstehen wird. Die postdemokratische Feudalbürokratie?«
    Ich liebe solche Gespräche. Leider interessieren Philipp, auch wenn er manchmal ein Buch liest, letztlich nur die Frauen, und Eberhards Horizont geht über die vierundsechzig Felder nicht hinaus. Willy hatte in großen evolutionären Perspektiven gedacht und mit dem Gedanken geliebäugelt, daß die Welt oder was die Menschen von ihr übriglassen im nächsten Äon von den Vögeln übernommen werden würde.
    Tyberg musterte mich lange. »Natürlich. Als Frau Buchendorffs Onkel müssen Sie nicht auch Buchendorff heißen. Sie sind der pensionierte Staatsanwalt Dr. Selb.«
    »Nicht pensioniert, 1945 ausgeschieden.«
    »Ausgeschieden worden, vermute ich«, sagte Tyberg.
    Ich mochte mich nicht erklären. Judith sah es mir an und sprang ein. »Gegangen worden will noch nicht viel heißen. Die meisten sind wiedergekommen. Das ist Onkel Gerd nicht, nicht weil er nicht hätte können, sondern weil er nicht mehr wollte.«
    Tyberg sah mich weiter forschend an. Mir war nicht wohl in meiner Haut. Was sagt man, wenn man jemandem gegenübersitzt, den man mit fehlerhaften Ermittlungen fast zur Hinrichtung gebracht hat? Tyberg wollte mehr wissen. »Sie wollten also nach 1945 nicht mehr Staatsanwalt sein. Das interessiert mich. Was waren Ihre Gründe?«
    »Als ich Judith das einmal zu erklären versucht habe, meinte sie, meine Gründe seien eher ästhetischer als moralischer Natur gewesen. Mich hat angewidert, welche Haltung meine Kollegen bei und nach der Wiedereinstellung zeigten, das Fehlen jeglichen Bewußtseins der eigenen Schuld. Gut, ich hätte mich in anderer Haltung und mit dem Bewußtsein der Schuld wieder einstellen lassen können. Aber ich hätte mich damit als Außenseiter gefühlt, und dann wollte ich lieber richtig draußen bleiben.«
    »Je länger Sie mir gegenübersitzen, desto deutlicher sehe ich Sie als jungen Staatsanwalt wieder vor mir. Natürlich haben

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