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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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wahr, und ich mag dich auch als Mann. Das ging nie soweit, daß ich deswegen einen ersten Schritt hätte machen wollen. In den vergangenen Wochen schon gar nicht. Aber was machst du für verquälte erste Schritte, oder sollen das gar keine sein? ›Es macht mir keine Schwierigkeiten, dazu zu stehen‹, dabei macht es dir die größten Schwierigkeiten, auch nur diesen gewundenen vorsichtigen Satz rauszubringen. Komm, laß uns weiterfahren.« Sie rollte den angefangenen Pulloverärmel um die Stricknadeln und wickelte noch etwas Garn darum.
    Mir fiel nichts mehr ein. Ich fühlte mich gedemütigt. Bis Olten redeten wir kein Wort.
    Judith hatte im Radio das Cellokonzert von Dvorak gefunden und strickte.
    Was hatte mich eigentlich gedemütigt? Judith hatte mir ja nur um die Ohren geschlagen, was ich in den vergangenen Monaten selbst gefühlt hatte: die Unklarheit meiner Empfindungen ihr gegenüber. Aber sie hatte es so lieblos getan, ich fühlte mich durch ihr Zitieren vorgeführt und aufgespießt, ein Würstchen, das sich windet. Ich sagte ihr das bei Zofingen.
    Sie ließ das Strickzeug in den Schoß sinken und sah lange vor sich auf die Fahrbahn.
    »Ich habe das in meiner Rolle als Chefsekretärin so oft erlebt, Männer, die was von mir wollen, aber nicht dazu stehen. Sie hätten gerne was mit mir, aber wollen’s doch zugleich nicht gewesen sein. Sie bauen es auch so, daß sie sich sofort wieder zurückziehen können, ohne letztlich involviert zu sein. So kam mir das mit dir auch vor. Du machst einen ersten Schritt, der aber vielleicht gar keiner ist, eine Geste, die dich nichts kostet und mit der du nichts riskierst. Du sprichst von Demütigung … Ich habe dich nicht demütigen wollen. Ach, Scheiße, warum kannst du nur für deine eigenen Gekränktheiten sensibel sein.« Sie wandte den Kopf. Es klang, als ob sie weine. Aber ich konnte es nicht sehen.
    Bei Luzern wurde es dunkel. Als wir in Wassen waren, mochte ich nicht weiterfahren. Die Autobahn war geräumt, aber es fing zu schneien an. Ich kannte das ›Hôtel des Alpes‹ von früheren Adriafahrten. Im Empfang stand noch der Käfig mit der indischen Samenkrähe. Als sie uns sah, krähte sie: »Haltet den Dieb, haltet den Dieb.«
    Zum Abendessen aßen wir Zürcher Geschnetzeltes und Rösti. Auf der Fahrt hatten wir darüber zu streiten begonnen, ob der Erfolg den Künstler sein Publikum verachten lassen muß. Röschen hatte mir von einem Konzert mit Serge Gainsbourg in Paris erzählt, bei dem das Publikum um so dankbarer applaudiert hatte, je verächtlicher es von Gainsbourg behandelt worden war. Seitdem beschäftigte mich diese Frage, und sie hatte sich mir zum größeren Problem geweitet, ob man alt werden kann, ohne die Menschen zu verachten. Judith hatte der These vom Zusammenhang zwischen künstlerischem Erfolg und menschlicher Verachtung lange Widerstand entgegengesetzt. Beim dritten Glas Fendant gab sie klein bei. »Du hast recht, Beethoven ist schließlich taub geworden. Taubheit ist der vollendete Ausdruck von Verachtung der eigenen Umwelt.«
    In meinem mönchischen Einzelzimmer schlief ich tief und fest. Wir brachen früh nach Locarno auf. Als wir aus dem Gotthardtunnel fuhren, war der Winter vorbei.

11
Suite in h-Moll
    Wir kamen gegen Mittag an, nahmen Zimmer in einem Hotel am See und aßen auf der verglasten Veranda mit Blick auf bunte Boote. Die Sonne ließ es sehr warm werden hinter den Scheiben. Ich war aufgeregt beim Gedanken an den Tee bei Tyberg. Von Locarno nach Monti fährt eine blaue Drahtseilbahn. Auf halbem Weg, wo der aufsteigenden die runterfahrende Kabine begegnet, ist eine Station, Madonna del Sasso, eine berühmte Wallfahrtskirche, die nicht schön, aber schön gelegen ist. Bis dorthin gingen wir auf dem mit großen runden Kieseln gepflasterten Kreuzweg. Den Rest des Aufstiegs schenkten wir uns und nahmen das Bähnchen.
    In vielen Windungen folgten wir der Straße zu Tybergs Haus an dem kleinen Platz mit dem Postamt. Wir standen vor einer gut drei Meter hohen Mauer, die zur Straße abfiel und auf der ein schmiedeeisernes Gitter entlanglief. Der Pavillon auf der Ecke und die Bäume und Sträucher hinter dem Gitter ließen die erhöhte Lage von Haus und Garten erkennen. Wir klingelten, öffneten die massive Tür, gingen die Treppe zum Vorgarten hoch und hatten das schlichte, rotgestrichene, zweigeschossige Haus vor uns. Neben dem Eingang sahen wir Gartentisch und -stühle, wie man sie aus Biergärten kennt. Der Tisch war mit Büchern und

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