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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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Erste-Hilfe-Kenntnissen natürlich, die meine Aufgaben als Oberlehrer und Pfadfinderführer von mir fordern. Aber ich meine, man braucht einen Mut zum Selbstverstümmeln, und den Mut würde ich dem Siegfried nicht zutrauen. Sein Vater ist da aus einem anderen Holz.«
    Er brachte mich schon zur Tür, als ihm noch etwas einfiel. »Wollen Sie Photos sehen?« Auf dem Album stand 1968, die Bilder zeigten wechselnde Gruppen von Pfadfindern, Zelte, Lagerfeuer, Fahrräder. Ich sah die Kinder singen, lachen und Faxen machen, aber ich sah in ihren Augen, daß Pfadfinderführer Jungbluth den Schnappschuß kommandiert hatte. »Das ist Siegfried.« Er zeigte auf einen eher schmächtigen blonden Knaben mit verschlossenem Gesicht. Ein paar Bilder weiter entdeckte ich ihn wieder. »Was ist hier mit seinem Bein los?« Das linke Bein war im Gips. »Richtig«, sagte Oberlehrer Jungbluth. »Eine unangenehme Geschichte das. Ein halbes Jahr lang hat damals die Unfallversicherung versucht, mir ein Aufsichtsverschulden anzuhängen. Dabei ist Siegfried ganz dumm gestürzt, als wir die Tropfsteinhöhle in Pottenstein besucht haben, und hat sich das Bein gebrochen. Ich kann doch nicht überall sein.« Er sah mich Zustimmung heischend an. Ich stimmte ihm gerne zu.
    Auf der Heimfahrt zog ich Bilanz. Es blieb nicht mehr viel zu tun im Fall Sergej Mencke. Die Doktorarbeit von Philipps Famula wollte ich mir noch anschauen, und für den Schluß hatte ich aufgespart, Sergej im Krankenhaus zu besuchen. Ich war sie alle leid, die Oberlehrer, Hauptleute, schwulen Germanistikprofessoren, das ganze Ballett und auch Sergej, noch ehe ich ihn gesehen hatte. War ich berufsmüde? Schon im Fall Mischkey war ich hinter meinen professionellen Standards zurückgeblieben, und wie mir der Fall Mencke verleidet war, das wäre früher nicht passiert. Sollte ich aufhören? Wollte ich eigentlich älter werden als achtzig? Ich konnte meine Lebensversicherung auszahlen lassen, die mich zwölf Jahre lang ernähren würde. Ich beschloß, im neuen Jahr mit meinem Steuerberater und Versicherungsagenten zu reden.
    Ich fuhr nach Westen in die untergehende Sonne. Soweit ich blicken konnte, glänzte rosig der Schnee. Der Himmel war von blasser, porzellanener Bläue. Aus den Schornsteinen der fränkischen Dörfer und Städtchen, an denen ich vorbeifuhr, stieg der Rauch hoch. Das heimelige Licht in den Fenstern weckte alte Sehnsüchte nach Geborgenheit. Heimweh nach Nirgendwo.
    Philipp war noch im Dienst, als ich um sieben auf der Station nach ihm fragte. »Willy ist tot«, begrüßte er mich bedrückt. »Dieser Dummkopf. Heute noch an einem perforierten Blinddarm zu sterben ist einfach lächerlich. Ich verstehe nicht, warum er mich nicht angerufen hat; er muß furchtbare Schmerzen gehabt haben.«
    »Weißt du, Philipp, ich hatte im letzten Jahr nach Hildes Tod öfter den Eindruck, daß er eigentlich nicht mehr will.«
    »Diese blöden Ehemänner und Witwer. Wenn er nur ein Wort gesagt hätte, ich kenne Frauen, die lassen einen jede Hilde vergessen. Was ist übrigens aus deiner Brigitte geworden?«
    »Die treibt sich in Rio rum. Wann ist die Beerdigung?«
    »Heute in einer Woche. Vierzehn Uhr auf dem Hauptfriedhof in Ludwigshafen. Ich hab mich um alles kümmern müssen. Ist ja sonst niemand mehr da. Bist du einverstanden mit einem Grabdenkmal aus rotem Sandstein, mit einem Käuzchen drauf? Wir legen zusammen, du, Eberhard und ich, damit er ordentlich unter die Erde kommt.«
    »Hast du dir schon über die Anzeigen Gedanken gemacht? Und wir müssen den Dekan seiner ehemaligen Fakultät verständigen. Kann deine Sekretärin das machen?«
    »Geht in Ordnung. Ich würde gerne mitkommen, du gehst doch jetzt sicher essen. Aber ich kann nicht weg, vergiß die Doktorarbeit nicht.«
    Da waren’s nur noch drei. Ich ging nach Hause und machte mir eine Dose Sardinen auf. Ich wollte es dieses Jahr mit leeren Ölsardinendosen probieren an meinem Weihnachtsbaum und mußte mit dem Sammeln beginnen. Es war fast schon zu spät, um bis Weihnachten genug zusammenzubringen. Sollte ich Philipp und Eberhard am nächsten Freitag abend zum Leichenschmaus mit Ölsardinen einladen?
    ›Frakturen durch Türen‹ war fünfzig Seiten stark. Die Systematik der Arbeit ergab sich aus einer Kombination von Türen und Brüchen. Die Einleitung enthielt ein Kreuzdiagramm, das in der Waagerechten die verschiedenen bruchverursachenden Türen und in der Senkrechten die türverursachten Frakturen verzeichnete. In den

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